Materialien 2006

Proteste gegen „Justizreformismus“

Italienische Angehörige und Politiker demonstrieren vor Münchner Gerichtszentrum

Der Mailänder Anwalt Gilberto Pagani fand deutliche Worte: Die Einstellung des Verfahrens gegen einen für die Erschießung italienischer Kriegsgefangener verantwortlichen ehemaligen Wehrmachts-Gebirgsjäger durch die bayerische Staatsanwaltschaft ( antifa berichtete) sei der wohl „erste Fall von Justizrevisionismus“. Würden doch mit der Einstellungsbegründung, dass es sich hier nicht um unverjährbaren Mord, sondern um verjährten Totschlag gehandelt habe, „die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse über den Haufen geworfen“.

Ausdrücklich war in Nürnberg festgeschrieben worden, dass es sich bei den italienischen Truppen auf der griechischen Insel Kephallonia um eine „reguläre Armee“ gehandelt habe. Um Kriegsgefangene also, deren Erschießung eindeutig eine Mordtat gewesen sei.

In der Begründung des Münchner Oberstaatsanwalts August Stern aber steht: „Italienische Streitkräfte waren keine normalen Kriegsgefangenen. Aus Verbündeten wurden sie zu heftig kämpfenden Gegnern und damit im Sprachgebrauch des Militärs zu ‚Verrätern’. Damit liegt der Fall nicht wesentlich anders als wenn Teile der deutschen Truppe desertiert und sich dem Feind angeschlossen hätten. Eine daran anschließende Hinrichtung wäre wohl ebenfalls nicht als Tötung aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB anzusehen.“

Gegen diese ungeheure Diffamierung der Ermordeten als „Verräter“ – vom Staatsanwalt noch mit einer nachträglichen Kriminalisierung von Wehrmachtsdeserteuren verbunden – protestierten am 8. Dezember vor dem Münchner Justizzentrum Angehörige der Opfer und italienische Politiker und Juristen, unterstützt von deutschen Antifaschisten. Die VVN-BdA vertrat bei der Manifestation der Holocaust-Überlebende Ernst Grube.

„Nein, Hass empfinde er nicht, sagt Enzo de Negri leise, aber vernehmlich“, schrieb die Süddeutsche Zeitung in ihrem Bericht. „Auch seine Schwester Marcella will von Rache nichts wissen. Den Geschwistern geht es um etwas ganz anderes: Sie wollen nicht, dass eines der größten Kriegsverbrechen der Deutschen an Italienern im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Justiz zu den Akten gelegt wird. Vor allem aber wollen sie nicht, dass ihr 1943 von einer Gebirgsjägereinheit ermordeter Vater, Capitano Francesco de Negri, nachträglich zu einem ‚Verräter’ gestempelt wird. Genau das hat die Münchner Staatsanwaltschaft indirekt getan und deshalb sind die Geschwister mit vielen anderen aus Italien angereist, um vor dem Strafjustizgebäude in der Nymphenburger Straße zu demonstrieren.“

Marcella de Negri dankte nach Pressekonferenz und Kundgebung mit bewegten Worten besonders den jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die den Aufrufen des Arbeitskreises Angreifbare Traditionspflege und der VVN-BdA zur Solidarität mit den Nachkommen der Opfer des Massenmordes an italienischen Kriegsgefangenen auf Kephallonia gefolgt waren. Die Manifestation habe ihr die Kraft gegeben, den Prozess gegen den letzten noch lebenden Verantwortlichen für die Erschießung ihres Vaters durch alle juristischen Instanzen durchzufechten.

Am Rande sei noch vermerkt: Während sonst in der bayerischen Landeshauptstadt kleinste antifaschistische Kundgebungen oft von großen Polizeiaufgeboten „begleitet“ werden, kümmerte sich in diesem Falle nur die Besatzung eines Kleinbusses um „Sicherheit und Ordnung“ vor dem Justizgebäude. So geht es also auch, wenn man sich vor der internationalen Politik und Öffentlichkeit nicht blamieren will.

Ernst Antoni


Antifa. Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur Januar/Februar 2007, Berlin, VIII.