Materialien 2010

Rede zu Martin Löwenbergs 85. Geburtstag

12. Mai 2010, 18.00
Gewerkschaftshaus, Schwanthaler Straße 64

Siegfried Benker, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen – rosa Liste

Lieber Martin Löwenberg,

unglaubwürdigen Gerüchten zu Folge bist Du heute 85 Jahre alt geworden. Es kann sich hierbei nur um eine bewusste Falschmeldung des militärisch-industriellen Komplexes handeln. Es ist mit Sicherheit nur der Versuch, Dich aufzufordern endlich aufzuhören mit politischen Aktionen und dich aufs Altenteil zurückzuziehen.

Seit nunmehr 65 Jahren leidet das Kapital unter Deiner politischen Arbeit und Deinen politischen Aktionen. Das freut uns, aber natürlich nicht das Kapital.

Doch schon im Faschismus hast Du Widerstand geleistet und hast dafür einen hohen Preis bezahlt. Du hast die ganze Brutalität des Faschismus am eigenen Leib erfahren und erlitten.

Den gesellschaftlichen Sieg des Nationalsozialismus 1933 hast Du immer als Niederlage der linken und demokratischen Kräfte gesehen – genauer als ein Versagen der demokratischen und linken Kräfte, was es auch war.

Wenn ich Deinen Weg – seit jetzt gut 25 Jahren richtig verfolgt habe, dann würde ich gerne zehn Anmerkungen machen.

1.

Demokratie ist für Dich als Grundlage unabdingbar. Bei allen Streitigkeiten, die die Linke intern hat, muss die Verteidigung der Demokratie an erster Stelle stehen.

2.

Wir können uns über alles streiten – außer über eines: Faschismus, Rassismus, Antisemitismus muss im Keim erstickt werden. Wenn die Demokratie hier nochmal versagt, dann haben wir nicht mehr den Rahmen um uns zu streiten. Das ist Dein NIE WIEDER.

3.

Demokratie muss jeden Tag verteidigt werden. Wer in der Demokratie schläft wird in der Diktatur aufwachen. Das ist es, was dich ununterbrochen antreibt.

4.

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen. Dir ist klar: Der Faschismus entsteht nicht aus dem Nichts, sondern hat reale Bedingungen, die ihn ermöglichen oder genauer: Benötigen.

5.

Ich bin mir sicher, Du hältst es mit Michel Foucault, der gesagt hat: Faschismus von heute ist nicht mehr die Besetzung des Innenministeriums durch rechtsextreme Gruppen, sondern die Besetzung des Landes durch das Innenministerium. Mit anderen Worten: Faschismus von heute ist modern geworden, wer ihn nicht bekämpft, wird bemerken dass er in modernisiertem Gewand stärker wird:

* Andersdenkende werden nicht ins KZ-gesperrt, sondern mit allen Mitteln überwacht und digital eingesperrt,

* Flüchtlinge werden nicht erschossen, sondern man lässt sie im Mittelmeer ertrinken.

* Wer zu Feinden der westlichen Demokratie erklärt wurde, verschwindet in Guantanamo, einem anderen extralegalen Gefängnis, wird in Abu Ghreib oder Syrien oder Pakistan oder Afghanistan oder woanders im Namen der Menschenrechte gefoltert.

* Die Städte säubern mit Videotechnik ihren öffentlichen Raum.

* Während gar nicht genug Milliarden gefunden werden können, um Banken und Millionäre zu retten, fehlt das Geld im sozialen Bereich oder der Altenpflege.

6.

Mit anderen Worten: Es gab und gibt viel zu tun – auch und gerade der modernen Variante faschistoiden Handelns die Maske vom Gesicht zu reißen. Andere wären nach 65 Jahren bestimmt schon verzweifelt. Du nicht. Du bist von einer festen Überzeugung geleitet: Wer nicht jeden Tag kämpft und jede Ungerechtigkeit angreift, der hat schon verloren, auch wenn er den aktuellen Kampf nicht gewinnt. Weil Du immer weitergemacht hast und immer noch weitermachst, bist Du uns allen ein Vorbild: Natürlich würden wir gerne mal siegen, die freie Gesellschaft ausrufen und wie Marx sagt, in der Deutschen Ideologie: Im vollkommenen Kommunismus werden wir früh am Morgen jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie wir gerade Lust haben, ohne je Jäger, Fischer oder Viehzüchter gewesen zu sein. (Aber ganz ehrlich, wer von uns will wirklich fischen, jagen oder viehzüchten – nur das mit dem Kritisieren würden wir gut hinkriegen) also: Wir würden gerne mal siegen, auch wenn wir uns sicher schon bei der Vorbereitung der Siegesparty zerstreiten würden. Aber davon unabhängig: Ein Vorbild bist Du uns allen, weil Du immer weiter gemacht hast, obwohl der Feind/das Kapital immer mächtiger wurde, obwohl die modernen Varianten der Ausgrenzung und der Politik der offensiven Verarmung, der Umverteilung von unten nach oben, zugenommen haben. Das hast Du wahrscheinlich als Boxer gelernt: Du kannst zu Boden gehen, die Frage ist nur, wann du wieder aufstehst.

Demokratie – und nicht nur die formale, sondern die inhaltlich gelebte gleichberechtigte Demokratie, lebt von der permanenten Auseinandersetzung. Und bist Teil dieser Auseinandersetzung seit Jahrzehnten. Gäbe es nicht viele Menschen, die hier immer wieder Gesellschaft mit ihren Mitteln beeinflussen wollen – und heute geht es um Dich deshalb: hättest Du nicht all die Jahre Protest und Widerstand organisiert und angetrieben und vorgemacht, würde unsere Gesellschaft heute anders aussehen.

7.

Du hast über all dem Deinen Humor nicht verloren. Auch wenn Du vielleicht zwischendurch mal in ideologischen Tunneln den entsprechenden Blick hattest, hast Du Dich doch immer wieder aus ideologischen Fallen befreit. Lenin hat zwar gesagt, der Anarchismus sei die Kinderkrankheit des Kommunismus, die Wirklichkeit ist aber anders: Ohne Anarchisten vergreist der Kommunismus sofort. Du hast gemerkt, dass der Kommunismus immer wieder einen anarchistischen Fußtritt benötigt, wenn gerade kein Anarchist zur Hand ist, übernimmst Du das gerne auch mal selbst.

8.

Du hast auch immer vorgelegt, dass ein politisches Ziel nur von allen gemeinsam vorangetrieben werden kann. Am letzten Samstag haben wir es gesehen: Ein breites Bündnis hat gegen den Neonaziaufmarsch aufgerufen in Fürstenried. Und alle kamen: die Kirche genauso wie die Antifagruppen. Wäre nur die Kirche da gewesen, wäre die Straße, auf der die Neonazis marschieren wollten, nicht blockiert worden. Dann hätte ein Ordnungshüter mit weißer Verkehrspolizistenmütze genügt, um die Straße frei zu halten. Wären nur die Antifaschistischen Gruppen da gewesen, wären sie, ohne dass die Presse es berichtet hätte, weggeräumt worden. Aber da alle da waren, war ein wichtiger und bedeutender Erfolg möglich. Du bist in Deiner Person dieses virtuelle breite Bündnis. Du verbindest die unterschiedlichsten Szenen, weil Du es mit Deiner Autorität kannst. Und Autorität hast Du nicht, weil Du Macht hast, sondern Du hast sie Dir in einem politischen Leben erarbeitet.

9.

Martin – hab manchmal Mitleid mit uns: wir sind eine verweichlichte Generation. So alle paar Stunden auf einer Demonstration schielen wir nach dem nächsten Cafe, wo es eine Latte Macchiato gibt. Wir nehmen deswegen auch alles ernst. Aber während Du immer Deine Krücke nimmst und voranmarschierst, werden wir gerade müde. Also; hab ab und zu Mitleid mit uns Jungen. Aber das Bewundernswerte an Dir ist ja: Du warst doch bestimmt auf gefühlten 8 Millionen Bündnistreffen. Auf gefühlten 8 Millionen Bündnistreffen wurde das gleiche diskutiert – oder zumindest gefühlt das gleiche. Aber Du bist unverdrossen, Du weißt, am Ende muss ein Ergebnis stehen. Du warst und bist immer ein Bündnismotor. Manchmal denke ich mir, Du solltest Dich auch mehr schonen. Aber was Du auch bist, ist deutlich: ein Motivator, vor allem jemand, der die Flamme des Engagements weitergibt an junge Menschen.

10.

Jetzt kann ich noch lüften, warum der militärisch-industrielle Komplex das Gerücht in die Welt setzt, Du hättest heute 85. Geburtstag. Natürlich magst Du rein körperlich 85 sein, die eine Krankheit hier, die andere Schwäche dort. Aber das zählt nicht. Das meint die Gerüchteküche des Kapitals auch nicht. Der militärisch-industrielle Komplex fürchtet etwas ganz anderes: Sie sehen: die richtige Mischung aus Antifaschismus mit einer starken Prise Antikapitalismus hält jung, macht dynamisch und kann ein Vorbild sein. Das wollen sie auf keinen Fall, dass die Menschen sehen: Alle anti-aging-Therapien sind nichts im Verhältnis zu einem schönen antikapitalistischen Antifaschismus. Deswegen macht Dein Vorbild sie so fertig. Mach weiter so, bleib 85 Jahre jung und lass die anderen alt aussehen.


Der Vortragende hat das Manuskript G.G. übergeben.