Materialien 1969
Der Akademiekindergarten und das Antiautoritäre
»Den Kindern ging es im Akademiekindergarten so gut, sie waren richtig glücklich. Da wurden Freundschaften geschlossen, die heute noch anhalten, sowohl zwischen den Eltern als auch zwischen den Kindern. Wir Eltern haben ja nicht nur unsere Kinder an der Tür abgegeben, wir waren mitverantwortlich für das Bestehen des Kindergartens. Wir haben mitfinanziert, mit geputzt, mitgekocht und vor allem mitdiskutiert.
Während die Kinder miteinander nach Hause gingen und auch mal bei ihren Freunden und Freundinnen übernachteten, was damals sehr unüblich war.«
1969 waren die Wolffs mit ihrer vierjährigen Tochter aus Tübingen nach München gezogen. Sie fanden eine Wohnung in der Theresienstraße, im ersten Stock »direkt auf Höhe der Oberleitung der Straßenbahn, die damals durch die Theresienstraße in die Ludwigstraße fuhr und einen unglaublichen Lärm machte.« Bis die U-Bahn Anfang der 7Oer Jahre fertiggebaut war. Die Kleine bekam einen Platz im Kindergarten der Türkenschule.
»Da ging es für meine Begriffe ziemlich paramilitärisch zu: mittags mussten die Kinder schlafen, eine Stunde in ihren Bettchen, alle den Kopf in die gleiche Richtung gedreht. Sie durften sich nicht anschauen, sie durften nicht lachen, nicht miteinander reden. Es war alles stark auf Gehorsam ausgerichtet.
Als ich meine Tochter einmal um drei Uhr abholte, die Kinder spielten im Sandkasten im Hof, war doch eine der Kindergärtnerinnen noch dabei, zwei Stunden nach der Mittagspause, meiner Tochter das eiskalte Essen hineinzuwürgen.
Das lag gar nicht so sehr an den Kindergärtnerinnen, die waren gar nicht schlecht, es lag an ihren Arbeitsbedingungen, mit denen sie selber unzufrieden waren: Sie hatten zu viele Kinder und konnten deshalb nicht mit ihnen machen, was sie gerne gemacht hätten. Deshalb streikten sie und wir haben diesen Streik auch unterstützt. Aber einschneidende Verbesserungen hat er nicht gebracht.«
Auf dem Weg zu seiner Arbeit als Lektor im dtv-Verlag in der Friedrichstraße kommt Lutz Wolff in der Türkenstraße an einer Baracke vorbei »wo immer viele Kinder spielten, die laut waren, manchmal nackig, aber immer unglaublich dreckig. Sie machten einen glücklichen Eindruck und weil wir mit dem städtischen Kindergarten so gar nicht glücklich waren, fasste er sich mal ein Herz und ging hinein.
Unvorsichtigerweise in seiner Arbeitskluft mit Anzug und Krawatte. Niemand trug dort so etwas und sie dachten gleich, dass er ein Spitzel wäre. Auch unsere Berufe erschienen ihnen ziemlich bürgerlich und somit suspekt. Trotzdem nahmen sie uns, wohl auch, weil wir einen recht hohen Beitrag zu zahlen gewillt waren. Vielleicht hatten sie auch nicht genug eigene Kinder. Jedenfalls sind wir vorher geprüft worden auf unsere politische Zuverlässigkeit. Wir hatten schließlich unsere Politschulungen aus Tübingen noch voll drauf.
Der Kindergarten im Park der Akademie war ursprünglich für die Kinder der Kunststudenten und -studentinnen gedacht gewesen. Die ersten Kindergärtnerinnen, die man >Bezugspersonen< nannte, waren Studentinnen.
Mit denen waren aber die Eltern der Kindergartenkinder nicht so zufrieden und es kamen >Ausgebildete<, mit denen aber die Studentinnen nicht zufrieden waren, weil sie meinten, sie kämen mit der antiautoritären Erziehung nicht zurecht.
Denn das war der Knackpunkt: antiautoritäre Erziehung. Da gab es dann abstruse Geschichten: Wenn Kleinkinder den ganzen Tag mit vollen Windeln herumliefen und abends ganz wund waren, aber eine Diskussion angesetzt wurde, in der es hieß: wie schädlich es doch sei, den Kindern die Scheiße aus der Hose zu nehmen, weil das ja eine autoritäre Wegnahme ihrer ureigensten Produkte wäre.
Wir hatten den Argwohn, dass es denen nur zu unangenehm und widerlich war, die Kleinen trockenzulegen. Die Eltern dieser Kleinen zogen es dann auch vor, ihre Kinder da rauszunehmen.
Die übrigen, so ab drei Jahren, waren mächtig glücklich und frei. Ihr Spielplatz war die Baracke, der Park und die Ateliers der Studenten. Ab und zu tauchten sie auch in den Vorlesungen von Professoren auf. Es kam öfters vor, dass ein Kind abhaute, aber es ist nie etwas Ernsthaftes passiert.
Wir hatten eigentlich nur Angst, dass das Stadtschulreferat, so hieß, glaube ich, die zuständige Stelle, davon erfahren könnte und uns die Zuschüsse streichen. So von wegen mangelnder Aufsichtspflicht.
Wenn es also hieß, es käme eine Inspektion von der Stadt, fingen wir an mit dem Großreinemachen. Trotzdem waren die Kontrolleure noch ziemlich schockiert und es gab immer wieder Probleme mit den Zuschüssen.
Irgendwann tauchte sogar der Vorwurf der Indoktrination auf, weil im Kindergarten natürlich auch politische Plakate und Zeitungsartikel aushingen. Mit den Kindern wurde über Politisches gesprochen, soweit sie es eben schon verstehen konnten. Zu Demonstrationen wurden sie mitgenommen und die Eltern sagten ihnen, warum es auch für sie wichtig wäre.
Trotzdem war der Akademiekindergarten für die Leute vom Uni-Kindergarten im Leopoldpark nicht politisch genug. Irgendwie eben zu anarchisch und chaotisch. Die Kinder durften alles bemalen, nicht nur ein Blatt Papier, sie haben Ton geformt und gebildhauert. Da wurde großzügig mit den Materialien umgegangen. Es musste nicht etwas herauskommen, was man ausstellen konnte und was perfekt war, damit sich die Kindergärtnerinnen selber profilieren konnten. Da wurde einfach Kreativität geweckt und mit Sachverstand begleitet. Das gefiel den Kindern.
Manchmal allerdings war die Stimmung irgendwie freudlos, da ging’s den Bezugspersonen selber schlecht und sie machten ein Gesicht wie >in dieser schrecklichen Welt kann man doch nicht glücklich sein< oder >wer lacht, gehört schon zum Establishment<.
Was ihnen an uns suspekt war: wir waren verheiratet und lebten auch noch zusammen. Manchmal hatte man den Eindruck, es sei ihr erklärtes Ziel, die Eltern auseinander zubringen. Tatsächlich sind in dieser Zeit eine Menge Ehen auseinandergegangen. Unsere nicht, damals nicht, das hat sie eher stabilisiert. Unsere Tochter blieb ein Jahr im Akademiekindergarten, dann machte in München eine antiautoritäre Schule auf mit einer Vorschulklasse, die sie mit fünfeinhalb besuchte und ab sechs einhalb in der ersten Klasse war.
Unsere Freunde und Verwandte waren immer sehr beeindruckt, wenn unsere Tochter erzählte, sie müssten nur in den Unterricht, wenn sie wollten. Oder dass sie die Lehrerin irgendwo in einem Cafe gefunden hätten, weil die gerade keine Lust gehabt hätte. Also, wenn die Kinder nicht schon vorher zum Lernen motiviert waren, durch diese Schule wurden sie es nicht. Nach drei Jahren hat sie dann auch wieder geschlossen. Manche Eltern haben ihre Kinder herausgenommen, weil sie meinten, sie lernten nicht genug. Oder weil sie allmählich Zweifel am antiautoritären Konzept bekommen hatten, oder weil sie meinten, schon antiautoritär erziehen, aber nebenbei auch was lernen. Oder weil die Eltern selber nicht bereit waren, so viel zu machen, wie so eine Schule braucht.
Viele hatten auch Angst vor den Schwierigkeiten beim Übergang in die staatlichen Schulen. Meiner Tochter und ihrer Freundin hat es nichts ausgemacht. Wer Lust hat zu lernen, lernt so oder so.
Und solange es kein durchgehend antiautoritäres Lernsystem gab, bis zum Hochschulabschluss, war es ja sowieso nur Stückwerk.
Trotzdem hat das Projekt >Antiautoritäre Erziehung< Kreise gezogen. Bis hinein in die städtischen Kindergärten. Fünf Jahre später gab es das schon nicht mehr, dass die Kinder sich beim Schlafen in eine Richtung ausrichten mussten. Auch daß Autorität nicht das Wichtigste ist bei der Kindererziehung, sondern dass Kinder Freiraum brauchen und ihre Bedürfnisse respektiert werden – das alles hat die antiautoritäre Bewegung in der Erziehung durchgesetzt. Im Hinterkopf hatten wir da immer das Modell von >Summerhill<.
Der Akademiekindergarten wäre ja ohne die Studentenrevolte nicht denkbar gewesen. Den hatten sich die Studenten ab 1968 erkämpft. Ich habe mit der Nacharbeit der Osterunruhen zu tun bekommen als Rechtsreferendarin bei der Rechtshilfe.
Da ging es um die beiden Toten am Buchgewerbehaus und wir haben untersucht, ob es möglich war, dass die Studenten die Bretter so weit durch die Luft schleudern konnten oder was es sonst für Todesursachen geben könnte. Und da gab es ziemliche Anhaltspunkte dafür, dass im Fall Schreck es nicht die Studenten waren, sondern die Polizei, die diese Bohlen geworfen hatte. Das ist nie eindeutig geklärt worden.
Später habe ich den Rolf Pohle und den Fritz Teufel verteidigt.
Heute bin ich mehr mit Familienrecht und Sorgerecht beschäftigt und da helfen mir die Erfahrungen von damals immer noch. Diese intensive Beschäftigung mit Erziehungsfragen, das war mehr, als sonst Eltern machten, um ihr Kind anständig zu erziehen, das hat mir Wissen gegeben, Sensibilität und Gespür für Alarmzeichen, die Kinder aussenden. Noch heute habe ich eine ganz starke Abneigung gegen gewalttätiges oder auch nur autoritäres Verhalten gegenüber Frauen und Kindern.
Durch die Studentenbewegung bin ich ein politischer Mensch geworden. Sie hat mich, wie viele andere auch, sehr weitgehend und sehr radikal von unseren Eltern und deren Werten entfernt. Sie hat uns geholfen, unseren Zorn auf die Eltern abzureagieren wegen ihres Schweigens oder ihrer Mitschuld im Dritten Reich. Das war für viele von uns die Hauptfrage. Aber der Versuch, Geschichte neu zu schreiben, macht auch davor nicht halt: die starke linke und antiautoritäre Bewegung in Deutschland – weil ja die DDR kaputtgegangen ist – soll ausgelöscht werden. So nach dem Motto: Was links war, muß falsch gewesen sein. Oder: die Linken sind schuld, dass es die DDR überhaupt gegeben hat.
Übrigens: meine Tochter ist Ärztin geworden und ihre Freundin Journalistin. Beide haben immer noch engen Kontakt, sind erfolgreich und politisch engagiert. Trotz dieser antiautoritären Erziehung.« (lacht)
Roswitha Wolff
Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 409 ff.