Flusslandschaft 2011
Religion
„‚Kirche zum Anfassen’ – kein hohles Versprechen mehr. Jetzt weiß man, was dahinter steckt. Handfeste Interessen, natürlich.“1
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Vor dem ehemaligen Café King in der Müllerstraße im Januar 2011
Am Karfreitag, 22. April, treffen sich einige Nicht-Christen und andere Freigeister im Maxim-Kino in der Landshuter Allee. Um 17 Uhr wird das antiklerikale Schoko-Pralinen-Buffett eröffnet, dann der Film „Chocolat – Ein Biss genügt“ und um 20 Uhr der Film „Religulous – man wird doch wohl fragen dürfen“ gezeigt. Ein Film-Team der BBC beobachtet das heidnische Treiben auf Münchens Straßen, das der Bund für Geistesfreiheit (bfg) organisiert.3
Bei seiner Rede im Berliner Reichstag sagt Papst Benedikt XVI. am Donnerstag, 22. September, im Glauben liege der Schlüssel, Gutes und Böses unterscheiden zu können und der Gerechtigkeit und dem Frieden zu dienen. Zugleich appelliert der Pontifex an die Politiker, ihrer Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden gerecht zu werden. Im Vorfeld protestiert auch die Münchner Giorda-
no-Bruno-Stiftung.5
Politically Incorrect (PI)6 plante für den 29. Januar eine Veranstaltung, die aber der Wirt der Gaststätte in der Bayerstraße absagte, nachdem er erfuhr, um wen es sich bei seinen Gästen han-
delt.7 Im Februar 2011 führte der ehemalige Pressesprecher von Monika Hohlmeier, Michael Stür-
zenberger, in München eine gemeinsame Veranstaltung von PI und der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) durch. Den Vortrag vor überwiegend bürgerlichem Publikum hielt Stefan Ullrich, der Initiator der Internetseite „Deus vult“ und Katechist eines katholischen Missionswerkes. PI verweist auf seine Sympathie mit den USA, mit Israel und mit dem Grundgesetz. PI als traditionell rechtsextremistisch oder rechtspopulistisch zu bezeichnen, ist völlig unzureichend bzw. falsch. In-
dem sich PI verbal vom dumpf-gewalttätigen Rechtsextremismus sowie von der NPD distanziert, findet die Gruppe Anklang in bürgerlichen Kreisen und bedient dort den „extremism of the center“ (Seymour Martin Lipset). PI greift vor allem die herrschende Politik der „bunten Republikaner“ an, die Zuwanderung und „schleichende“ Islamisierung Europas zulasse und sogar fahrlässig beförde-
re. Zu den „bunten Republikaner“ gehören selbstverständlich auch CDU und FDP. – Im Mai kam Stürzenberger einem CSU-Parteiausschluss durch Austritt zuvor und lud kurz danach zur Grün-
dung der Partei Die Freiheit (DF) ein. – Am 12. September bestätigte die Regierung von Oberbai-
ern, dass die Landeshauptstadt München Gastwirte vor Versammlungen mit PI warnen darf. – Am Donnerstag, 29. September, veranstaltet der Caritasverband der Erzdiözese München und Frei-
sing im Münchner Rathaus anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Akademie der Nationen im Caritaszentrum Innenstadt eine Podiumsdiskussion mit dem Titel “Deutschland schafft sich neu – die multikulturelle Gesellschaft lebt” mit Christian Ude, dem Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmitt, Prof. Klaus J. Bade, Vorsitzender des Sachverstän-
digenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, und anderen. Das Motto soll als Antwort auf Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ gelten. Dagegen demonstrieren etwa zwanzig Mitglieder von PI, BPE und DF am selben Tag auf dem Marienplatz vor dem Rathaus un-
ter dem Motto „Islam ist Monokulti“. Ursprünglich wollten sie an der Veranstaltung teilnehmen, der Zutritt ins Rathaus war aber nur nach Ausweiskontrollen möglich. Ein Münchner Kindl mit Gesichtsschleier sitzt während der Kundgebung auf einem Pferd. Es kommt zu heftigen Diskussi-
onen mit Passanten. Stürzenberger meint, er habe nichts gegen Muslime, sondern etwas gegen den Islam. Etwa zweihundert Passanten unterschreiben einen Aufruf von PI.
Am Freitag, 14. Oktober, startet DF am Marienplatz um 14 Uhr ihre Unterschriftensammlung für das „Bürgerbegehren gegen das europäische Zentrum für den Islam in München (ZIE-M)“. Neben der Kundgebung ist wiederum ein auf einem Pferd sitzendes Münchner Kindl mit Gesichtsschleier und einem Schild mit den Worten „Ich bin ein Münchner Kindl – holt mich hier raus“ zu sehen. Gegendemonstranten protestieren.
Am 4. November spricht der Hamburger Historiker Olaf Kistenmacher von der “Roten Ruhr Uni” im Kafe Marat in der Thalkirchnerstraße über “Sekundärer Antisemitismus, Nationalismus oder verkürzter Antikapitalismus – Zu den Motiven für Judenfeindschaft in der Linken”. Darüber soll-
ten sich die Freunde Israels eigentlich freuen, sie versammeln sich aber vor dem Veranstaltungsort und demonstrieren gegen „den linken Antisemitismus“. Einige der Demonstranten wollen den Vor-
trag besuchen, der Eintritt wird ihnen verwehrt. Nun: „Linker Antisemitismus“ ist nichts Neues – Historiker haben ganze Bücher darüber geschrieben, wie auch in internationalistische Bewegungen sich zeitweise völkisch-rassistische Positionen eingenistet haben. Wieso diese Aufregung!
Am 29. November findet eine Kundgebung “Gegen Gewalt jeglicher Extremisten” von BPE Bayern und PI München auf dem Platz vor der Oper statt.
Am 6. Dezember trifft sich der Vorstand des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung und disku-
tiert unter anderem, wie man sich gegenüber PI verhalten könne. Die Diskutanten sind sich einig, dass der Koran eine nicht zu akzeptierende Sammlung von Äußerungen enthält, die einen Absolut-
heitsanspruch formulieren und ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen bestrebt sind.8 Wie damit um-
gehen? Ein Anwesender schlägt vor, weitere Anstrengungen darauf richten, dass die Trennung von Kirche und Staat auch bei uns in der Bundesrepublik und in Bayern radikal durchgeführt wird, dass der Staat sich die sozialpolitischen Zuständigkeiten und Pfründe von den Kirchen zurückholt, dass Religionsgemeinschaften konsequent nur als privatrechtliche Vereine gelten dürfen, die für ihre Belange ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen ihrer Gläubigen zu finanzieren sind, und dass vor allem Organisationen von Ex-Muslimen wie der Zentralrat des Ex-Muslime auf jede Weise unterstützt werden muss. Schließlich orientiere sich die Arbeiterbewegung ganz zentral an der europäischen Aufklärung. Es wäre eine Katastrophe, wenn wir hinter deren mühsam und blutig erkämpften Errungenschaften zurückfielen.
„Déjà vu? Sie tragen ein Hinrichtungsinstrument um den Hals – als Zeichen ihrer Gemeinschaft. Bisweilen zeichnen sie dieses Marterwerkzeug auch mit den Händen in die Luft. dabei blicken sie ernst und viele von ihnen neigen den Kopf und schlagen sich auf Stirn und Brust.“9
Der Deutsche Freidenker-Verband e.V. befindet sich in der Fleischerstr. 3, 80337 München, Te-
lefon: (089) 76 85 03, E-Mail: dfv-muenchen@freidenker.org, www.muenchen.freidenker.org.
(zuletzt geändert am 28.11.2020)
1 Manfred Ach, Scherzgrenze. Schmerzhaftes vom Mönch, München und Wien 2011, 5958.
2 Foto © Volker Derlath
3 Siehe www.bfg-muenchen.de.
4 Aufkleber-Sammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
5 Siehe „Papst wird im Bundestag nicht missionieren“ von Georg Korfmacher und „Papstrede im Deutschen Bundestag“ von Heinrich Klussmann. Siehe dazu auch die Zeichnung von Steve Geshwister unter www.linophil.de/ablassreiniger/
6 Siehe www.pi-news.net.
7 Siehe „PI-Veranstaltung verhindert“.
8 Aus der Fülle der Belege hier nur einige Zitate aus der Sure 9: At-Tauba (Die Reue): 9:5 „Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, und ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf. Wenn sie aber bereuen und das Gebet verrichten und die Zakah entrichten, dann gebt ihnen den Weg frei. Wahrlich, Allah ist Allvergebend, Barmherzig“ – 9:29 Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahr-
heit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde –, bis sie den Tribut aus der Hand entrichten und gefügig sind! — 9:68 Allah hat den Heuchlern und den Heuchlerinnen und den Ungläubigen das Feuer der Hölle versprochen, ewig darin zu bleiben. Es ist ihre Genüge. Und Allah hat sie verflucht, und für sie gibt es beständige Strafe. — 9:111 Allah hat von den Gläubigen ihre eigene Person und ihren Besitz dafür erkauft, dass ihnen der (Paradies)garten gehört: Sie kämpfen auf Allahs Weg, und so töten sie und werden getötet. (Das ist) ein für Ihn bindendes Versprechen in Wahrheit in der Thora, dem Evangelium und dem Qur’ān. Und wer ist treuer in (der Einhaltung) seiner Abmachung als Allah? So freut euch über das Kaufgeschäft, das ihr abgeschlossen habt, denn das ist der großartige Erfolg. — www.islam.de.
9 Manfred Ach, Zeit läuft! Verfallsdaten vom Mönch, München und Wien 2011, 5839.