Flusslandschaft 1968
Kunst/Kultur
BILDENDE KÜNSTE
Im fernen Venedig findet die Biennale statt. Revoluzzer aus München nehmen daran teil.1
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Erwin Oehl: Demonstration, Öl auf Leinwand, 120 × 210 cm – Eine Gruppe von bildenden Künst-
lern, die zum Teil Malverbot im III. Reich hatte, orientiert sich nach 1945 nicht nach „neumodi-
schen“ Strömungen, sondern beharrt auf dem Anspruch einer gegenständlichen, realistischen bzw. naturalistischen Gestaltung ihrer Werke. Unter ihnen wirkt der auch sonst politisch aktive Erwin Oehl, dessen Oevre zum Sozialistischen Realismus gerechnet werden kann.
„… Gleichzeitig bildete sich ein Aktionszentrum demokratischer Künstler mit einer vorläufigen Zentrale in der Neuen Münchner Galerie, 8 München 2, Maximiliansplatz 14. Hier arbeiten die Teilnehmer und Interessenten der Solinger Tagung demokratischer Künstler und Angehörige
des Münchner Komma-Clubs in zwei Richtungen: 1. Theoretische Ausarbeitung von konkreten kulturpolitischen Forderungen und Analysen der Opposition in jedem Fach und zu den Bedürfnis-
sen jedes Faches; zum Beispiel: Unterdrückung und Manipulation im Ausstellungs- und Jurywe-
sen, offiziöse und oppositionelle Literatur, abhängiges und oppositionelles Theater. 2. Verbindung zwischen den Künsten und der gesellschaftlichen Basis. Wie, mit welchen neuen Formen und Methoden können die Künste in der Arbeit der Opposition besonders an der gesellschaftlichen Basis nützlich werden? Aktionen und direkte Agitation. Interessenten wenden sich an die Gale-
rie.“3
In der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße 33 wird am 1. August die Künstlerkooperative „Demokratische Künstler“ von vierzig Malern, Bildhauern und Schriftstellern gegründet; es werden drei Arbeitskreise gebildet. „… Nach einer Gründungsversammlung im August beschlossen etwa
40 Teilnehmer und Interessierte in enger Zusammenarbeit mit dem jetzt in München (Grillparzer-
straße 39) etablierten ‚Republikanischen Club’ in Aktionen und Arbeitsgruppen eine politisch-gesellschaftskritische Arbeit in ihrem Fach und in der Öffentlichkeit. Bei der Eröffnung des dies-
jährigen ‚Herbstsalons im Münchner Haus der Kunst’ wurden Flugblätter gegen den autoritären Charakter des gewohnten Kulturbetriebes verteilt. Anschließende Diskussionen mit der Leitung des ‚Herbstsalon’ und im Münchner ‚Berufsverband’ ließen die wachsende Unzufriedenheit und keimende Politisierung vieler Kollegen erkennen, welche sich auch an der ebenfalls in München vollzogenen Gründung der ‚Aktion zur sozialen und demokratischen Erneuerung’ (Richard Denke, 8 München 8, Pertisaustraße 7) ablesen lässt. Die Münchner Künstler-Kooperative beschloss die Herausgabe eines Weißbuches über reaktionäre Machenschaften und Korruption in den Schalt-
zentralen der bayrischen Kunst. Interessenten für die Kooperative wenden sich an: Hans Jürgen Grollmann, 8 München 71, Schieggstraße 6, Tel. 795276.“4
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Agitationsschrift hiystoeryie and provocation. aktionen in münchen, hg. von Blackpoint, Peter Staimer Nr. 4 vom Oktober 1968. – Nicht nur Texte unterlaufen Konventionen, Heft- und Buch-
umschläge werden mit Hilfe des neuen Offsetdruckverfahrens und mit Mitteln einer avantgar-
distischen Collagetechnik gestaltet; sie richten sich damit gegen tradierte Sehgewohnheiten.
FILM
„…Weil auch die Studenten der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) wegen des MOLOTOW-COCKTAIL-Films einen Prozess erwarteten, fuhr Holger Meins und sein Kommilitone Günther Peter Straschek Anfang 1968 nach München, wo ebenfalls gerade eine Filmhochschule er-
öffnet worden war. Doch keiner der dortigen Dozenten wollte ihnen helfen. Straschek schrieb spä-
ter, Alexander Kluge habe sie wenigstens zum Essen eingeladen: er „besah sich den Kurzfilm, ging mit uns ums Karree spazieren, Ecke Leopold-Ainmillerstrasse verabschiedete er sich mit der Be-
merkung, er könne uns leider kein Gutachten schreiben, denn der MOLOTOW-COCKTAIL sei, im Gegensatz zu uns zweien, nicht dialektisch genug …’.“6
Am 8. April entsteht das undependent film center, betrieben von Karlheinz und Renate Hein, eine Filminitiative im Rottmann-Kino in Anlehnung an die „Film-Makers Cooperative“ von Jonas Me-
kas und Stan Brakhage in New York.
„Filmregisseur Jean-Marie Straub, geboren 1933 in Metz, wächst im besetzten Frankreich auf. Studiert in Strasbourg und Nancy. Arbeitet in Paris mit Regisseuren wie Abel Gance und Jean Renoir, ist an der Gründung eines Filmclubs beteiligt, wo er Jacques Rivette und Robert Bresson kennenlernt. – Während des Algerienkrieges, 1958, flieht er zusammen mit seiner Frau Danièle Huillet vor seiner Einberufung nach München. Seit Mitte der 60er drehen sie zusammen mehr als 20 Filme, die meist auf literarischen oder musikalischen Vorlagen basieren. – In und um München entstand 1968 der Kurzfilm „Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter“. Straub inszenier-
te am Münchner Action Theater, auf Einladung von Rainer Werner Fassbinder, das Theaterstück „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner, stark gekürzt. Diese Inszenierung führt er in seinem Film weiter. Eine hoffnungslose Geschichte um Prostitution und Kunst. Am Anfang eine lange Kamerafahrt, die den Autostrich auf der Landsberger Straße zeigt. Dann zwei Frauen, die auf einer Theaterbühne sitzen. Eine Dreiecksgeschichte, wie der Titel schon verrät. ‚Fassbinder ist auf der Leinwand und spielt den Zuhälter der beiden Frauen, danach verlassen wir das kleine Theater. In München, bei Nacht, in Schwarzweiß wird ein Mann von Fassbinder verfolgt, ein Schwarzer, es gelingt ihm zu entkommen. …’ (Philippe Garrel) – Fassbinder war von Straub beeindruckt, und die Zusammenarbeit reichte bis in Fassbinders eigenen Film ‚Liebe – kälter als der Tod’ (1969) – der enthält eine Fahrt durch die Landsberger Straße, die von Jean-Marie Straub zur Verfügung gestellt wurde. Straubs Aufenthalt in München, wo er am Stachus über einem Kino wohnte, beeinflusste auch die Münchner Gruppe.“7
Beim „Europäischen Treffens unabhängiger Filmemacher“, das Karlheinz Hein und Werner Schulz vom undependent film center am 12. und 13. November im Künstlerhaus am Lenbachplatz und in den Augusta-Lichtspielen Ecke Augusten- und Gabelsbergerstraße organisieren, sieht das manch-
mal entgeisterte Publikum Experimentalfilme, die jegliche Sehgewohnheiten durchbrechen, und dann auch noch verstörende Aktionsfilme von Günter Brus und Otto Muehl mit „skandalösen In-
halten“.
Am 14. November zeigt Valie Export auf dem Stachus ihr »Tapp- und Tastkino«. »Peter Weibel forderte mit einem Mikrophon das Publikum auf, auf die Dunkelheit im Kino zu verzichten und zu tasten statt zu schauen. Der vor VALIE EXPORTs Brüsten hängende Kasten hatte an der Vorder-
seite einen Vorhang. Wer das von Weibel ausgerufene Angebot annahm, hatte freien Zugriff auf Exports Brüste, während die Aktrice eine Stoppuhr startete. Nach zwölf Sekunden rief Weibel: ‚Ende der Vorstellung, der Nächste bitte.‘«8 Marlene Steeruwitz: »In der fundamentalistischen immer verführbarer Männlichkeit und immer verführerischer Weiblichkeit war der Griff des Mannes hinter den Vorhang in das Tapp- und Tastkino unumgänglich. Im Nachweis seiner He-
terosexualität zwängliches Recht. Das Kalkül VALIE EXPORTs stimmte.«9 »Die Technik der Schnitte und Vernähungen, der Dekontextualisierung als die grundlegend paradoxe Technik der medialen Bildproduktion, die Körper parzelliert und zu Projektionsflächen zusammenbastelt, wird hier auffälligerweise unter Abwesenheit von Körperbildern erzählt. Kein über den Körper lancier-
ter Authentizitätseffekt mehr, sondern ein ästhetisch bestechendes Aufzeigen von Mechanismen und Seh(n)süchten der Bilder und ihrer Betrachterlnnen. Für sie immer wieder neue Formenspra-chen zu finden, ist die Kunst VALIE EXPORTs seit über 30 Jahren.«10
Am 15. November werden die Augusta-Lichtspiele Ort der Aufhebung der etablierten Grenzen zwischen Rezipienten und Akteuren sowie zwischen Film und Theater. „Dass Expanded Cinema nicht nur die materielle Seite des Medium Films, sondern auch die Aufführungsbedingungen und das Verhalten des Publikums thematisierte, wurde in Exit vorgeführt. Peter Weibel rief in den Augusta-Lichtspielen über Mikrofon ‚Feuer ist Licht, Kinematographie ist Licht, schreien die Reaktionäre. Sie sollen es haben – das bewegliche Lichtbild!‘, während Valie Export, Kurt Kren, Hans Scheugl, Gottfried Schlemmer und Ernst Schmidt jr. den Zuschauern die Bedeutung dieser Worte auf den Leib brannten: Die Wiener Akteure beschossen das Publikum mit Feuerwerkskör-
pern, Rauchpulver (Rauchbomben, Knallfrösche), Flugobjekten und Feuerkugeln, die durch Lö-
cher in der Aluminium-Leinwand geworfen wurden. Das von der ‚Unmittelbarkeit des Feuers‘ (Re-
de Weibel) überwältigte Publikum verließ fluchtartig den Saal.“11
KABARETT
Dieter Hildebrandt (Lach&Schieß): Wolfgang „Neuss wollte ja eigentlich gar kein Kabarett mehr machen. ‚Kabarett hat keinen Sinn mehr, man muß Aktionen machen. Man muß politisch denken und handeln. Das Kabarett hat ausgespielt.‘ In dieser Situation hat ihn Sammy Drechsel angerufen. Wir wollten 1968 ein Programm machen und hatten uns vorgestellt, daß uns der Neuss helfen soll-
te. Wir wollten was Neues machen. Wir wollten eine neue Form, wir wollten einen anderen Inhalt. Wir wollten nicht mehr kommentieren, was am Tage passiert war. Wir wollten ein Stück spielen. Neuss hatte davon gehört und wollte sofort mitspielen. Das ging aber aus verschiedenen Gründen nicht, aber er sollte uns wenigstens beraten. Da sagte er: ‚Gut, ich komme, bringe aber den Salva-
tore mit.‘ So hatten wir da nun zwei Leute sitzen: den Neuss, der irgendwie schon Kabarett machen wollte und den [Gaston] Salvatore, der ihm ständig gegenübersaß und fragte: ‚Machst du jetzt wirklich Kabarett?‘ Neuss war hin- und hergerissen zwischen uns und ihm. Wenn er uns dann einen Rat gab, hat er ihn garantiert am nächsten Tag zurückgenommen. Er hat uns durch seine Anwesenheit geholfen, hatte auch ein paar Ideen, aber als dann das Programm anlief, an dem er ja seinen Anteil hatte, saß er kopfschüttelnd da und grummelte: ‚Wer hat denn diesen Scheißdreck verbrochen?‘ Zu allem Überfluß hat er uns dann dieses Programm tatsächlich übelgenommen.“12
LITERATUR
Die aktuellen Konflikte schlagen sich auch in Gedichten nieder, in denen Form und Inhalt ein neues Verhältnis eingehen.13
„‚Mit einer gewissen Beschämung geben wir hiermit bekannt, dass derzeit ausgeliefert wird 61. – 70. Tausend’, freut sich die ‚Wissenschaftliche Verlagsanstalt zur Pflege des deutschen Sinngutes’, 8032 Gräfelfing, Hartnagelstraße 11. Ausgeliefert werden in diesen Massen die Ulksammlung ‚Worte des Vorsitzenden Heinrich’, Lübkes gesammelter Unsinn. Der gleiche Verlag kündigt für Juli an: ‚Der deutschen Kunst. Eine Bestandsaufnahme ungeschwächten Wollens’. Die Untersu-
chung laut Prospekt von einem ‚Autor, von jenem Holze stammend, aus dem man echte deutsche Kunst- und Kulturkritiker schmiedet’ fasst die Meinungen der rechtsradikalen und konservativen Kunstwoller von Eichler bis Franzel zusammen.“14
MUSIK
Im Blow up am Elisabethplatz, benannt nach Michelangelo Antonionis Film „Blow up“ (1966), heute Theater der Jugend, spielen im November die Jungs von Pink Floyd.
THEATER
Ursula Strätz und Horst Söhnlein leiten das action-Theater, aus dem schon bald Fassbinders Anti-Theater wird. Söhnlein ist nicht zufrieden. „Er wollte gern, dass die Arbeiter auf die Bühne kom-
men. Die Arbeiter übernehmen die Macht und übernehmen auch die Macht auf dem Theater. Sie stellen ihre Probleme selber dar.“15
Die Arbeiter haben allerdings etwas anderes vor. Da passt es gerade, dass aus Berlin im März Thorwald Proll, Gudrun Ensslin und Andreas Baader mit ihrem alten Amischlitten von Berlin kommend hier in München Rast machen und daran denken, etwas ganz Besonderes zu unterneh-
men. Söhnlein bricht die Zelte ab und fährt mit den dreien los. Am 2. April finden nächtliche Brandstiftungen in zwei Frankfurter Kaufhäusern statt. Auf die Anklagebank kommen Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein, – „die phantastischen Vier der Studentenbewegung“.
„Politik im Theater – Mitglieder der Münchner Kammerspiele haben ihre Kollegen an den deut-
schen Theaterbühnen aufgefordert, in den Vorstellungen gegen die Notstandsgesetzgebung zu protestieren und die Zuschauer aufzufordern, nicht nur Kunst zu konsumieren, sondern auch mal etwas für die Demokratie zu tun. Als erste Bühne folgte das Frankfurter ‘Theater am Turm’ dem Aufruf und schickte seinen Dramaturgen zur Aufklärung auf die Bühne, bevor Strindbergs Trau-
erspiel ‘Fräulein Julie’ über die Bretter gehen konnte. Sollte man nicht Exkursionen ins Theater für alle Mitglieder des Parlaments und der Regierung verbindlich machen?“16 – Mitglieder des En-
sembles der Kammerspiele starten eine Protestaktion gegen die Notstandsgesetze. Zehn Minuten werden die Aufführungen der „Komödie im Dunkeln“ von Peter Shaffer im Schauspielhaus und Brechts „Im Dickicht der Städte“ im Werkraumtheater unterbrochen. Schauspieler, Regisseure und Bühnenarbeiter treten an die Rampe und fordern das Publikum zur Diskussion auf. Das Publikum im Werkraumtheater applaudiert am 23. Mai, im Schauspielhaus ertönen Buhrufe und Pfiffe. Schauspieler Hans Clarin: „Dies ist eine Demonstration, die sich nicht gegen Sie, sondern an Sie richtet.“
Zwei Monate später: Das Werkraumtheater der Kammerspiele zeigt am 5. Juli als zweites deut-
sches Theater den „Viet Nam Diskurs“ von Peter Weiss, den „Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Viet Nam als Beispiel für die Notwendig-
keit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika, die Grundlagen der Revolution zu vernichten“. Peter Stein inszeniert, „Ansager“ Wolfgang Neuss verteidigt die US-Amerikaner, die ja „nur den Bombentep-
pich der Völkerverständigung über Leute legen, die nichts weiter haben als recht“ und lädt das Publikum der Premiere am Schluß des Polit-Lehrstücks zur Spendensammlung, um Waffen für den Vietcong zu finanzieren. Ergebnis: 500 Mark. Für die zweite Aufführung verbietet Kammerspiel-Verwaltungsdirektor Rudolf Lehrl die Kollekte. Daraufhin sammeln Regisseur und Schauspieler nach der Aufführung auf der Straße. Dritter Spieltag: Neuss protestiert und verzögert 50 Minuten seinen Auftritt. Stein fliegt raus, Neuss tritt nicht mehr auf. Intendant August Everding „strich ein Stück, das er »für wichtig gehalten« hatte und durch »keine zeremoniöse oder kunstgewerbliche Aufführung entschärfen lassen« wollte. Und er wußte auch, daß sich seine Regisseure mit dem »dokumentarischen und aufklärerischen Wert« des Urtextes von Weiss nicht begnügen würden. Sie wollten in ihrer Aufführung unverhüllte Agitation anstelle bürgerlicher Kunst und politische Provokation als Anreiz zu Vietnam-Diskussionen … Es bleibt jedoch einstweilen verboten. Inten-
dant Everding will zwar den »Viet-Nam-Diskurs« in seinem Hause zur Diskussion stellen, doch er weigert sich, die provokatorische Sammel-Aktion im Theater als »Konsequenz einer Inszenierung« anzuerkennen. Bereit, sich deshalb »inkonsequent oder sogar schizophren« nennen zu lassen, fragte er in einem Zeitungsartikel rhetorisch: »Soll man nach jeder Claudel-Aufführung zum Beten des Vaterunsers – katholische Version – auffordern?«“17
„Rainer Werner Fassbinder, geboren 1945 in Bad Wörishofen, gestorben 1982 in München an
einer Überdosis Kokain. – Nach seiner Schulzeit in München und Augsburg lebt er zwei Jahre bei seinem Vater in Köln, bevor er 1963 – 66 Schauspielunterricht am Fridl Leonhard Studio in Mün-
chen nimmt. Dort lernt er Hanna Schygulla kennen. 1967/68 dreht er seine ersten Kurzfilme: ‘Die Stadtstreicher’ und ‘Das kleine Chaos’. 1967 wird er Mitglied im action-Theater, das Räume in einem Keller der Müllerstrasse hat. 1968 wird ‘Katzelmacher’ dort uraufgeführt. 1968 löst sich das action-theater auf und er gründet mit Peer Raben, Hanna Schygulla und Kurt Raab das anti-thea-
ter, das Aufführungen im Büchner-Theater in der Kunstakademie und schließlich im Hinterraum der Schwabinger Kneipe Witwe Bolte hat. 1969 wurde ihnen dort vom Wirt gekündigt. In diesem Jahr führte er seine ersten beiden Filme auf: ‚Liebe – kälter als der Tod’ und ‚Katzelmacher’. 1971 war er Mitgründer des Filmverlag der Autoren, den er 1977 aber wieder verließ.“18
Am 7. September führt der Wiener Aktionskünstler Otto Muehl im Occamstudio in der Occamstra-
ße 8 seine „Pissaktion" vor: Er schifft sich und Anestis Logothetis in den Mund. „Diese Aktionen erhalten dank ‚der sozialisierten Tabus den Status einer Quasi-Gegenrede‘, welche ‚die Selbstver-
ständlichkeit des Ausscheidens in ein Kunstmittel verkehrt, also das Niedrige‘ – Urin und Kot – zu Bühnen- und Filmwürden erhöht und das im symbolischen Sinn ‚Hohe – die Bühne – erniedrigt‘.19
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Deutsche Uraufführung: Am 24. Oktober zeigt das Theater an der Brienner Straße das Musical „Hair“. Eigentlich ist das Stück eher brav, freilich auch ein wenig nackt. Münchner Sittenwächter treten auf den Plan. Um das Hippie-Poem verbieten zu können, wird es als Revue eingestuft, die laut dem bayerischen Landesstraf- und verordnungsgesetz der behördlichen Genehmigung bedarf. Ziel ist, das Stück schnell wieder abzusetzen. Produzent Werner Schmid und Regisseur Bertrand Castelli wollen ihr Stück als zeitkritisches Popmusiktheater verstanden wissen. Die Stadt schickt Bußgeldbescheide und droht mit der Schließung, die Theatermacher mit dem Verwaltungsgericht. Am Ende kommt’s zum Kompromiss. Die Darsteller dürfen sich nur unter einer Decke auf der Bühne wälzen und in der letzten Szene vor der Pause lediglich oben herum nackt posieren. Ein wenig Protest aber ist erlaubt: Auf der Decke ist „Zensiert!“ zu lesen. Auch die Übersetzer prote-
stieren. Schmid, von ihnen als „Show-Mogul“ bezeichnet, hat schon zu Beginn einige politische Spitzen gegen die BILD-Zeitung aus dem Drehbuch gestrichen. Sie verteilen vor den Vorstellungen Flugblätter, die Castellis Inszenierung als harmlose Verniedlichung ansehen.
ZEITSCHRIFTEN
Am Abend des Ersten Mai führt die Redaktion tendenzen zugunsten der APO in Richard Hiepes Neuer Münchner Galerie am Maximiliansplatz 14 eine Versteigerung von Grafik, Zeichnungen, Büchern und Plakaten durch.
(zuletzt geändert am 9.11.2024)
1 Siehe „Einladung!“.
2 Privatsammlung. Siehe Gerstenbergs „Das Recht der Nichtverzweifelten“.
3 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 52 vom August/September 1968, Rückseite.
4 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 54 vom November 1968, 230.
5 Privatsammlung
6 Tilman Baumgärtel: „Ein Stück Kino, das mit Film nichts zu tun hatte“ in Petra Kraus/Natalie Lettenewitsch/Ursula Saeckel/Brigitte Bruns/Matthias Mersch (Hg.), Deutschland im Herbst. Terrorismus im Film, München 1997, 42 f.
8 Thomas Dreher, Wiener Aktionismus und Aktionstheater in München, http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/dreheraktion.html#top52
9 Zit. in: Ines Kappert, Die Mechaniken des Blicks, in: Jungle World 6 vom 29. Januar 2003, 20.
10 Kappert, a.a.O.
11 Thomas Dreher, a.a.O.
12 Volker Kühn (Hg.), Der totale Neuss. Wolfgang Neuss Gesammelte Werke, Hamburg 2003, 54 f.
13 Siehe „das missverständnis“ von Roman Ritter.
14 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 51 vom Juni/Juli 1968, 110.
15 Thorwald Proll/Daniel Dubbe, Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus, Hamburg 2003, 13 f.
16 Zeit 22 vom 31. Mai 1968, 22.
17 https://www.spiegel.de/kultur/mark-im-hut-a-73a36efd-0002-0001-0000-000045996008
19 Thomas Dreher, a.a.O.
20 Foto: Maurice Hogenboom, in: Life vom 23. Mai 1970, 62 f.