Flusslandschaft 1969
Jugend
30.000 Jugendliche sind in Bayern in Erziehungheime eingesperrt. Die Zustände sind skandalös: »Die Weltfirma S. zum Beispiel läßt in einem derartigen Heim Schrauben drehen. Der Jugendliche erhält dafür pro Tag 60 Pfennig, über die er aber nicht frei verfügen darf. Was die Jugendlichen lernen, ist vor allem kriminelles Verhalten.«1
Die Aktion Südfront wirbt seit Juni bei Jugendlichen dafür, aus Erziehungsheimen wegzulaufen, und versteckt ausgebüchste Jugendliche. Ihre „Randgruppenagitation“ konzentriert sich zunächst auf das Piusheim im südlich von München gelegenen Glonn und das in der Nähe liegende Mäd-
chenheim Zinnenberg und richtet sich dann auf weitere Einrichtungen. Etwa hundert Jugendliche reissen im Sommer 1969 aus, etwa vierzig kommen in Münchner Wohngemeinschaften und Kom-
munen unter.
»Fast jeder zweite der entwichenen Zöglinge, die bei der Münchener ‚Südfront‘ Zuflucht suchten, hatte im Heim einen Selbstmordversuch unternommen … Am Tage einer CSU-Kundgebung mit Kiesinger und Strauß, vier Tage vor der Bundestagswahl, also am 24. September 1969, durchsuchte die Polizei in der Zeit von 4.10 Uhr bis 10.30 Uhr 16 Objekte, nämlich Wohnungen, den Trikont-Verlag und Räume des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität. Begründet wurde die Polizeiaktion mit dem ‚dringenden Verdacht, fortlaufend entwichene Fürsorgezöglinge verborgen zu haben‘ … In zwei Wohnungen nahm die Polizei 21 Jugendliche fest. Deren strafbare Handlun-
gen: Haschisch-Rauchen, kleine Diebstähle beziehungsweise Mundraub, vor allem Störung einer CSU-Wahlkundgebung mit Strauß 14 Tage zuvor. Dem Bändiger aller APO-Tiere hätten sie sich dort mit ‚miau‘ und ‚wauwau‘ zu erkennen gegeben.« 300 Polizisten sind im Einsatz; beschlag-
nahmt wird: »Eine vom Sozialreferat des AStA gestellte Liste von Ärzten, die Anti-Baby-Pillen auch an Unverheiratete verschreiben; theoretische Schriften und Flugblätter über Themen wie antiauto-
ritäre Kindergärten, Bundeswehr- oder Hochschulgesetzgebung; Zeitungsausschnitte; ein Manu-
skript des Frankfurter Professors Jürgen Habermas über die Resozialisierung schwererziehbarer Jugendlicher; ein Megaphon; ein Tonbandgerät; mathematische Manuskripte aus einer Doktorar-
beit.«2
Im Herbst löst sich die Aktion Südfront auf, einige Mitglieder bilden Anfang 1970 die Tupamaros München.3 – Malermeister Ernst Grube will einem der Entflohenen ermöglichen, bei ihm das drit-
te Lehrjahr zu Ende zu führen, gerät so in den Verdacht der Mitgliedschaft in der Südfront und ris-
kiert nicht nur deswegen, 1975 auf Grund des Radikalenerlasses von der Landeshauptstadt Mün-
chen nicht als Berufsschullehrer angestellt zu werden.4
Siehe auch „CSU“ und „Religion“.
1 Reiner Uthoff, Die drei Säulen des Kapitalismus. Unterdrückung — »Knast«. Justiz — «Bonn Hur«. Ausbeutung — »Wer beschiss Salvatore G«. Drei Programme vom Münchner Rationaltheater, (München 1971), 78.
2 A.a.O.
3 Siehe „Arbeitsbericht Südfront“. Vgl. Michael Sturm: „‚Passt bloß auf!’ Militante Proteste in München (1969 – 1982)“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshaupt-
stadt München, München 2011, 128 f.
4 Siehe „… Über die Aktion Südfront ist folgendes bekannt geworden …“.