Flusslandschaft 1974
Internationales
- Iran
- Syrien und Israel
- Ungarn
- Griechenland
- Portugal
- Vietnam
- Zypern, Griechenland, USA und Türkei
- UdSSR und Ukraine
- Chile
- Spanien
IRAN
Nachdem einige Demonstranten nach den Ereignissen des „Roten Antikriegstages“ vom 2. Sep-
tember 1972 für zwölf bis achtzehn Monate ins Gefängnis müssen, gründet sich in München eine Unterstützergruppe. Gegen drei Teilnehmer am „Roten Antikriegstag“ beginnt der Prozess am
28. Januar 1974.1 Am 12. Februar lautet das Urteil für den zwanzigjährigen Sascha Haschemi auf achtzehn Monate ohne Bewährung. Es droht seine Abschiebung in den Iran. Ein Beamter der Ausländerbehörde rät ihm: „Lernen Sie schon mal persisch.“ Haschemi taucht unter.
amnesty international zählt im Iran 40.000 politische Gefangene. Ständig werden Oppositionelle hingerichtet. Am 15. April beginnt in München die „CISNU-Solidaritätswoche“.
Im Juni werden dreizehn Arbeiter der Mosaikfabrik Irana bei einem Lohnstreik erschossen. Wenig später ermordet die Polizei neunzehn Studenten bei einer Demonstration. Die Bundesregierung meint: „Wenn wir ein Interesse haben an der Industrialisierung, am reibungslosen Fluss von Öl und Gas, dann haben wir auch ein außenpolitisches Interesse an Stabilität in diesem Raum.“
SYRIEN und ISRAEL
Am 30. Januar findet eine Kundgebung für israelische, in Syrien gefangene Staatsbürger, denen vierfacher Mord vorgeworfen wird, statt.2 — Am 24. Mai wiederholt sich diese Manifestation.3
UNGARN
Zweihundert Ungarinnen uns Ungarn protestieren am 17. Februar gegen die Absetzung von Kardi-
nal Mindszenty durch den Papst.4
GRIECHENLAND
Am 21. April 1967 putschten sich die Obristen Papadopoulos, Makarezos und Spandidakis an die Macht. Wenige Stunden danach waren die Führer aller politischen Parteien verhaftet, in den ersten Tagen 8 bis 10.000 politische Gegner interniert, 6.000 auf die Ägäisinsel Jaros deportiert. Im Land wurde gefoltert und gemordet, das Obristenregime wurde von der US-Regierung unterstützt.
18. April 1974: Hungerstreik als Protest gegen Verhaftungen von Regimegegnern in Griechenland.5 Am 20. April demonstrieren 1.500 Menschen gegen die griechische Militärjunta.6 Im Juli gibt der letzte Vertreter der Militärjunta, der ehemalige Chef der Militärpolizei Ioannidis, auf. Neuer Mini-
sterpräsident wird der Konservative Konstantin Karamanlis. Viele Juntaanhänger behalten ihre Positionen, viele Verbrechen bleiben ungesühnt.
PORTUGAL
Achtundvierzig Jahre lang lebte Portugal mit dreißig Prozent Analphabeten in der Landbevölke-
rung unter einer Diktatur. Am 25. April um 0 Uhr 30 kurz nach Mitternacht strahlt Radio Renascença das verbotene Lied „Grandola vila morena“ des Sängers José Afonso aus, Signal für das links gerichtete Movimento das Forcas armadas, das verhasste Caetano-Regime zu stürzen. Seitdem ringen Parteien, linke Organisationen und das Militär um den richtigen Weg im Lande.
Franz Josef Degenhard übersetzt den Text von José Afonso:
Grandola, vila morena,
Stadt der Sonne, Stadt der Brüder,
Grandola, vila morena,
Grandola, du Stadt der Lieder
Grandola, du Stadt der Lieder
Auf den Plätzen, in den Straßen
stehen Freunde, stehen Brüder,
Grandola gehört den Massen.
Grandola, vila morena,
viele Hände, die sich fassen,
Solidarität und Freiheit
geht der Ruf durch deine Straßen,
geht das Lied durch deine Straßen
gleich und gleich sind unsre Schritte
Grandola, vila morena
gleich und gleich durch Deine Mitte.
Deine Kraft und euer Wille
sind so alt wie unsre Träume,
Grandola, vila morena,
alt wie deine Schattenbäume,
als wie deine Schattenbäume,
Grandola du Stadt der Brüder,
Grandola, und deine Lieder
sind jetzt nicht mehr nur noch Träume.
VIETNAM
„VIETNAM-HILFE-KOMITEE MÜNCHEN – Die Vietnam-Hilfe führte am 8.6. im Münchner Nor-
den eine Flaschensammlung und eine Veranstaltung zur Unterstützung des Aufbaus einer Frauen-
klinik in den befreiten Gebieten in Südvietnam durch. Das Interesse und die Bereitschaft zu spen-
den war in der Bevölkerung sehr groß. Wir bekamen Pfandflaschen im Wert von 150 DM und 250 DM Spenden. Die Veranstaltung mit dem eindrucksvollen Film ‚Der Preis des Friedens‘ (1973) aus der DRV brachte neue Informationen über Vietnam. Diese Aktion werden wir in einem anderen Stadtteil wiederholen.“7
ZYPERN, GRIECHENLAND, USA und TÜRKEI
15. Juli: „Zusammen mit der faschistischen griechischen Junta organisieren die CIA und das US-
Außenministerium einen Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten des Inselstaates, Erzbischof Makarios. Der Präsident kann dem Attentat entkommen. Als die Demokraten in Athen die Obristenjunta verjagen, wechselt US-Außenminister Kissinger auf die Seite der Türkei, die Zypern überfallen hat. Tausende werden getötet, 200.000 Menschen verlieren ihre Heimat.“8
Am 17. Juli findet in München eine Kundgebung gegen den Putsch auf Zypern statt.9
UdSSR und UKRAINE
Am 5. August begannen ukrainischer StudentInnen einen Hungerstreik gegen Straflager in der Sowjetunion.10 — Ukrainische Emigranten demonstrieren am 10. November gegen die Sowjetuni-on.11
CHILE
»Der Dichter, der das Brot Brot und den Wein Wein zu nennen weiß, ist dem sterbenden Kapita-
lismus gefährlich.«12
„das kollektiv rote rübe hat am dienstag, den 18. juni, im crash premiere seiner neuesten produk-
tion. terror schildert die ereignisse um und nach dem putsch in chile. 5 mitglieder des kollektivs zeigen dem zuschauer mit mitteln der groteske vorgänge und zustände um das neue chileniiche todesregime, um CIA und ITT: folter, repression des terrorregimes. szenen des widerstandes der chilenischen bevölkerung führen dem zuschauer eindringlich die unrechtmäßigkeit, das verbre-
chen an einem ganzen volk durch einige wenige vor augen. die texte wurden gemeinsam erarbeitet, die musik stammt von konstatin wecker. die roten rüben wollen terror auf straßen und in cafehäu-
sern spielen.“13
„bautista von schowen, 30 Jahre alt, revolutionär, chilene. zusammen mit miguel enriquez, luciano cruz und anderen hat er 1965 den M.I.R., die zusammenfassung aller revolutionären kräfte in chile gegründet. nach dem putsch arbeitete bautista in der ersten reihe derer, die den widerstand gegen das blutige regime führten. sein name stand auf der liste der zehn von den militärs meistgesuchten personen in chile. am 13. dezember 1973 wurde bautista in der kirche los capuchinos in santiago verhaftet, danach im hospital militar von chilenischen, brasilianischen und cia-spezialisten fast zu tode gefoltert. bautista ist jetzt zum tode verurteilt. wir müssen sein leben retten. protestiert gegen das todesurteil! schreibt an consul dr. fitz bomüller, 8 münchen 40, rümannstr. 61. unterstützt den chilenischen widerstand!“14
Am 11. September findet eine Kundgebung gegen die Militärdiktatur in Chile statt. Siehe auch „Kunst/Kultur“.
SPANIEN
„SELBSTBESCHREIBUNG – Seit 35 Jahren herrscht in Spanien eine faschistische Diktatur. In-
folgedessen sitzen auch heute noch viele Menschen in den Gefängnissen des Franco-Regimes, weil sie für demokratische Freiheiten eintreten. Deshalb haben vor 4 Jahren Spanier, Deutsche und An-
gehörige anderer Nationalitäten in München die CAPPSE gebildet, die Kommission zur Hilfe für die politischen und sozialen Gefangenen in Spanien. Die Ziele der Organisation sind Amnestie für alle politischen Gefangenen und die Verwirklichung demokratischer Freiheiten in Spanien. Die CAPPSE unterstützt die Gefangenen und ihre Familien durch Geldsendungen, Kleider und Medi-
kamente. Für die Gefangenen ist dies gleichzeitig ein Zeichen der Solidarität, das ihnen moralische Kraft gibt weiterzukämpfen. Außerdem will die CAPPSE die Öffentlichkeit in der BRD über die Si-
tuation in Spanien informieren und die demokratischen Kräfte in der BRD aktivieren. Die Infor-
mationen bezieht sie aus dem direkten brieflichen Kontakt mit etwa 200 Familien von politischen Gefangenen. Sie wird weitergegeben auf Veranstaltungen, Flugblättern, durch Verkauf von Info-Material, in einer zweimonatlich erscheinenden Zeitung und in zwei Büchern, die bald erscheinen werden. Die Mittel zur finanziellen Unterstützung der Gefangenen erhalten wir aus Verkäufen und Spendensammlungen. Außerdem vergeben wir Gefangene oder ganze Gefängnisse als Patenschaf-
ten an Organisationen oder Einzelpersonen. Die CAPPSE ist eine unabhängige, überparteiliche Organisation. Sie unterstützt in Spanien alle politischen Gefangenen ungeachtet ihrer Ideologie und Parteizugehörigkeit. In der BRD arbeitet sie mit allen zusammen, die die Notwendigkeit zur Unterstützung dieser GEfangenen sehen. Die CAPPSE ist ein eingetragener, gemeinnütziger Ver-
ein. Mitglied kann jeder werden, der die Satzung anerkennt. Treffpunkt: Jeden 1., und 3. und ge-
gebenenfalls 5. Donnerstag im Monat um 2o Uhr im Centro Español, Daiserstr. 20. Kontaktad-
resse: Ernst Otto Kress, CAPPSE, 8 München 1, Postfach 568“15
Anfang Oktober treten die Arbeiter der FASA-Renault-Werke in Valladolid in den Streik; 13.000 besetzen das Werksgelände und demonstrieren in der Stadt. Bei den anschließenden Polizeiaktio-
nen wurden zwanzig Arbeiter verhaftet, einer ermordet. Solidaritätsstreiks werden von Arbeitern des Renault-Werks in Sevilla organisiert, bei Hispano Olivetti, General Elektrik Espagñola und auf den Werften von Vigo durchgeführt. In Madrid und Barcelona gehen die Polizeitruppen gegen Arbeiter in Kirchen vor. Im ganzen Land treten die politischen Häftlinge in den Hungerstreik: in Saragossa, Madrid, Bilbao, San Sebastian und Pamplona. In größeren Universitätsstädten wie Bilbao beschließen die Studenten die Unterstützung der Kampfaktionen der Arbeiterklasse. Es sieht so aus, als ob die Tage des Franco-Regimes gezählt sind. In München solidarisieren sich spanische „Gastarbeiter“. Eine Parole lautet „NI FRANCO – NI REI – NI OPUS DEI“. – Am 11. Juni wurde Admiral Luis Carrero Blanco als Nachfolger Francos als Regierungschef vereidigt. Am 20. Dezember explodiert in Madrid eine unterirdische Bombe unter dem Auto Carrero Blancos. El Ogro, der „Menschenfresser“, wie er in linksradikalen Kreisen genannt wird, ist tot. Die baskische Euskadi Ta Askatasuna (ETA) bekennt sich zu diesem Attentat. „Ein Faschist weniger, großartig“ ist die einhellige Meinung spanischer Oppositioneller.
(zuletzt geändert am 22.4.2023)
1 Siehe „Wer schützt uns vor dem Staatsanwalt?“.
2 Vgl. Münchner Merkur 26/1974.
3 Vgl. Münchner Merkur 119/1974.
4 Vgl. Münchner Merkur 41/1974.
5 Vgl. Süddeutsche Zeitung 91/1974.
6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 93/1974.
7 Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. Juni 1974, 3.
8 Conrad Schuhler, Return to sender? In: konkret 11 vom November 2001, 18.
9 Vgl. Süddeutsche Zeitung 163/1974.
10 Vgl. Süddeutsche Zeitung 179/1974.
11 Vgl. Abendzeitung 263/1974.
12 Pablo Neruda, Ich bekenne, ich habe gelebt, München 1974.
13 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 12. Siehe „kollektiv rote rübe presents TERROR“ von Anatol und „Die Zeit ist knapp“.
14 Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. Juni 1974, 3.
15 Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. Juni 1974, 11.