Materialien 1983
Thesen zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus
50 Jahre nach der Errichtung der NS-Diktatur in Deutschland
1.
Gegen einen hilflosen Antifaschismus
Den Blick auf die Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten verstellt sich,
□ wer den Rechtsextremismus von heute mit dem „Nationalsozialismus“ von damals undifferen-
ziert gleichsetzt,
□ wer bestimmte Äußerungsformen jugendlichen Protests (z.B. Hakenkreuzschmierereien) ohne Analyse der Subkultur als neofaschistisch definiert,
□ wer ein Erstarken des Rechtsextremismus bis zu einer neuen „Machtergreifung“ befürchtet und verhindern will, darüber aber die schleichende Entwicklung zum „Orwell-Staat“ übersieht,
□ wer monokausale Erklärungen sucht oder schon zu haben glaubt,
□ wer moralische Achtung oder Appelle an die Vernunft für angemessen und wirksam hält,
□ wer sich allein von Verboten eine Lösung verspricht.
□ „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, …“ (Max Horkheimer 1939)
2.
Die von Teilen des Industrie- und Finanzkapitals betriebene Übertragung der politischen Macht an die NSDAP am 30. Januar 1933 war nicht unvermeidbar.
Die Machtübertragung wurde möglich,
□ weil die politische Arbeiterbewegung schon seit Beginn des 1 . Weltkrieges und noch offenkundi-
ger seit seinem Ende und der Revolution 1918 gespalten war,
□ weil die gesellschaftliche Revolutionierung 1918/19 gescheitert war,
□ weil die Gewerkschaften sich durch eine Politik des Burgfriedens und der Sozialpartnerschaft in ihrer Kampfkraft lähmen ließen und
□ weil die Arbeiter dem Funktionärsapparat ihrer Parteien und Gewerkschaften gegenüber zu ver-
trauensvoll und gehorsam waren.
3.
Das Ende des „III. Reiches“ 1945, der „Zusammenbruch“, war nur das Ende der Herrschaftsform des Faschismus, nicht das Ende seiner Bedingungen in den Westzonen und der aus diesen ent-
standenen Bundesrepublik Deutschland.
4.
Wenn trotz der genannten Bedingungen für ein Fortleben des Faschismus bis heute keine der rechtsextremistischen Organisationen massenwirksam werden konnte, so hat das vor allem drei Ursachen:
□ Das sog. Wirtschaftswunder nach 1945 schuf Vertrauen der Massen in die „Soziale Marktwirt-
schaft“ und in das politische System der parlamentarischen Demokratie.
□ Die bürgerlichen Parteien einschließlich der SPD öffneten sich auf ihrem Weg zu „Volksparteien“ nach rechts. (s. Reden zum Tag der deutschen Einheit, auf Vertriebenentreffen …)
□ Der mit wachsenden Monopolprofiten einhergehende Konzentrationsprozess des Kapitals konn-
te bei anhaltendem Wirtschaftswachstum und den „normalen“ Konjunkturzyklen auch von einem „schwachen“ Staat, d.h. von der parlamentarischen Demokratie gesichert werden; andererseits konnte auch die infolge eben dieser Konzentrationsprozesse ums Überleben kämpfende mittelstän-
dische Wirtschaft durch Subventionen und ideologischen Beistand staatlich gestützt werden.
5.
Je mehr im Zuge der sich ausbreitenden Weltwirtschaftskrise des Kapitals die Schwäche der De-
mokratie und der „Sozialen Marktwirtschaft“ offenkundig wird, desto größer wird auch die Gefahr einer neuerlichen faschistischen Krisendeutung und Krisenlösung.
6.
Die Vorherrschaft des US-Kapitals und die Außenpolitik Reagans begünstigen nationalistische Tendenzen bis hinein in die Friedensbewegung und in Teile der Linken.
Folgerungen
7.
Wir müssen uns ernsthaft und unvoreingenommen mit den verschiedenen Formen des Rechtsex-
tremismus auseinandersetzen, müssen den Resonanzboden und das gesamte Umfeld rechtsextre-
mistischen Protests untersuchen; das Zählen von Mitgliedern und Organisationen hilft wenig.
8.
Wir dürfen nicht verdrängen, wie vielfältig jeder von uns selbst von diesem Umfeld geprägt ist und wie sehr bestimmte Denkstrukturen und Verhaltensmuster in der ganzen Bevölkerung verbreitet sind.
9.
Wollen wir uns nicht wie „Biedermann und die Brandstifter“ verhalten, so müssen wir das „Verbot und die Auflösung aller faschistischen und neofaschistischen Organisationen“ und das „Verbot aller faschistischen Propagandamaterialien“ entsprechend dem Beschluss des DGB-Bundeskon-
gresses vom Mai 1982 durchsetzen.
10.
Der Kampf gegen neofaschistische Krisenlösungen und gegen die Kriegsgefahr muß organisiert geführt werden; die größtmögliche Aktionseinheit aller Lohnabhängigen bilden die Gewerkschaf-
ten im DGB. Aufgabe aller Antifaschisten gleich welcher Partei ist es daher, die Gewerkschaften als Gegenmacht gegen das organisierte Kapital zu stärken.
Rolf Eckart, Januar 1983
Die Demokratische Schule 1/2 vom Januar/Februar 1983, 4 f.