Flusslandschaft 2022

Bürgerrechte

„Es ist der Fluch der Zeit, das Irre Blinde führen.“ Shakespeare, König Lear, 1605

München-steht-auf ruft zu Protesten gegen die staatlich verordneten Corona-Maßnahmen auf. Am 1. Dezember des vorigen Jahres demonstrierten 800, am 8. Dezember waren es 4.000, am 15. De-
zember trotz Verbot über 10.000. Die Initiative will
• das Grundgesetz mit allen daraus folgenden Rechten wiederherstellen,
• die Gesetze zur Katastrophenabwehr grundsätzlich auf Transparenz der Entscheidungsfindung überarbeiten, unter Mitbestimmung von Wissenschaftsgremien und Vertretern des Souveräns,
• Aufklärung der globalen Hintergründe dieser Pandemie,
• alle Menschen wieder miteinander verbinden, ohne Denkverbote, Diffamierungen und Katalogi-
sieren mit Framing-Begriffen,
• die Wiederherstellung der Unschuldsvermutung als Grundsatz in der Gesetzgebung, der Recht-
sprechung und dem Krankheitswesen,
• ein humanistisches Wertesystem schaffen, weg vom Streben nach Geld, Macht usw., hin zu der wertschätzenden Frage „Was habe ich als Individuum zur Gesellschaft beizutragen?“,
• den Diskurs dieser Themen in Gang setzen und fördern,
• interessierten Bürgern eine Plattform bieten, die mehr über die Problematiken, die es im Zusam-
menhang mit Corona gibt, erfahren wollen.

Am Montag, 3. Januar, bewegen sich kleine Gruppen maskenlos durch die Stadt. Um 17.50 Uhr identifizieren Polizeibeamte 15 Leute auf dem Marienplatz, um 18.10 Uhr etwa 50 Leute vor dem Pasinger Rathaus, die Richtung Bäckerstraße ziehen wollen, um 18.45 Uhr 70 Leute auf dem Ode-
onsplatz, die zum Marienplatz ziehen wollen. Erscheint die Polizei, mischen sie sich unter die harmlosen Fußgänger. In Pasing stoppt die Polizei den Aufzug in der Rathausgasse. Auch im Landkreis bilden sich Gruppen, einige Menschen tragen Grablichter. In Ottobrunn 130, in Haar 30, in Unterhaching 170, in Oberhaching 50 und in Neuried 20 Personen.



Gegen die München-steht-auf-Initiative mobilisiert ein Bündnis zu einer Gegenkundgebung. Der Aufruf lautet: „Solidarität statt Schwurbelei! Immer mehr Querdenker*innen schließen sich zu-
sammen, um dann unangemeldet, ungehindert und ohne Masken durch die Straßen Münchens zu ziehen. Auch diesen Mittwoch, den 5.1. wollen die Schwurbler*innen das jetzt wiederholen! Dies-
mal werden wir da sein. Wir stellen uns gegen Verschwörungsideologien, Wissenschaftsfeindlich-
keit und Antisemitismus!!! Kein Fußbreit dem Faschismus! Mittwoch, 5. Januar, 18.00 Uhr Ode-
onsplatz.“ Zum Bündnis gehören Grüne Jugend München, Linksjugend Solid München, JUSOS München, FridaysForFuture München, DIE LINKE im BA2, Linke Stadtrat, LBGA (Linkes Bündnis gegen Antisemitismus), NIKA (Nationalismus ist keine Alternative), Ende Gelände München, Die PARTEI KV München, Kreisjugendring München-Stadt, ISO – Internationale Sozialistische Orga-
nisation OG München, DGB Jugend München, A-tram Kollektiv, Antisexistische Aktion München (asam) und MLPD. – Richy Meyer beschließt, dort vorbeizuschauen. Es sind nur etwa 400 Men-
schen, die sich versammelt haben. Die Reden, die gehalten werden, erinnern an Beschwörungsritu-
ale. Immer wieder betonen Rednerinnen und Redner, dass sie die Mehrheit der Stadtgesellschaft repräsentieren. Die Kundgebung sieht anders aus. Sie betonen, dass in den Subtexten der Kriti-
kerInnen der Corona-Maßnahmen antisemitische Haltungen deutlich würden. Immer wieder be-
tonen sie, sie stünden dem Staatshandeln kritisch gegenüber, sie seien links, die „Schwurbler“ seien dagegen rechts zu verorten. – Meyer streift durch die Reihen, um einige Fotos zu machen. Ein Plakat erweckt seine Aufmerksamkeit: UNANGEMELDET, UNGEIMPFT, UNBERECHENBAR = UNBELIEBT. Er fragt nach und erfährt, dass der Plakatträger inzwischen vermutet, dass seine Aussage missverstanden werden könne. Meyer meint, gerade dies sei doch ein wunderbarer An-
lass, ins Gespräch zu kommen. Er selbst lehne pauschalierende Etikettierungen, Abqualifizierun-
gen und Stigmatisierungen ab. Der Plakatträger schaut ihm nachdenklich nach. Einer, der dem Gespräch zugehört hat, meint zu Meyer: „Du bist auch so ein Arschloch!“ – Am Rande der Kund-
gebung stehen vor der Fassade der Residenz einige Zuhörer. Eine Frau ruft laut: „Ihr wollt links sein!? Das seid Ihr nicht!“ Der Redner plärrt durch sein Mikrophon: „Ihr Schreihälse habt keine Argumente!“ Meyer erinnert sich daran, genau diese Formulierung auch schon aus dem Munde von CSU-Politikern gehört zu haben. Viele Passanten gehen kopfschüttelnd an der Kundgebung vorbei, einige lachen: „Seht sie an, die Ahnungslosen, mit ihren Fähnchen!“ – Währenddessen kreist ein Hubschrauber über der Innenstadt, so dass manches, was über Lautsprecher gesagt wird, unverständlich bleibt. Meyer beobachtet, dass immer mehr Menschen in losen Gruppen Richtung Altstadt ziehen. Dann fahren Dutzende Polizeifahrzeuge mit Blaulicht durch die Theatinerstraße Richtung Marienplatz hinterher. Die Reden auf dem Odeonsplatz sind ermüdend; Meyer be-
schließt zum Marienplatz zu gehen. Hier sieht er am Eingang zur Kaufingerstraße, wie Polizeikräfte einige Hundert Menschen eingekesselt haben. Gleichzeitig bewegen sich Hunderte wenn nicht Tausende Menschen in kleinen Gruppen kreuz und quer über den Platz. Polizeiketten rennen von einem Ort zum andern, oft verspottet mit „Hopp, hopp, hopp“-Rufen. Aus verschiedenen Ecken ertönen Rufe „Freiheit“ und „Frieden“. Die Taktik, sich aufzulösen und dann wieder zu sammeln funktioniert. Polizisten machen den Eindruck von Verunsicherung und Hilflosigkeit. Meyer steht neben einer Gruppe von Polizisten, die Identitätsfeststellungen vornehmen. Ein Mann zeigt seinen Ausweis und seinen Impfpaß. Der Polizist entschuldigt sich für sein Vorgehen und wünscht noch einen schönen Abend. Meyer beschleicht ein eigenartiges Gefühl. Er hat ja früher Bekanntschaft mit Einkesselung und mit Schlagstöcken gemacht. Jetzt hat er mit den Beamten beinahe Mitleid. – In Lautsprecherdurchsagen werden die anwesenden Personen aufgefordert, die Örtlichkeit zu ver-
lassen, da es sich hier um eine nicht genehmigte Versammlung im Sinne der Allgemeinverfügung der Landeshauptstadt München handele. Unmutsbekundungen werden laut. Einige Menschen versuchen, die polizeilichen Absperrungen zu durchbrechen. Schlagstöcke und Pfefferspray kom-
men zum Einsatz. – Dann stellt Meyer fest, dass, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sich der Platz langsam leert. Menschengruppen sickern in die Seitenstraßen; er geht über die Diener- und Residenzstraße zurück zum Odeonsplatz. Hier stehen noch etwa Hundert Menschen herum, unter ihnen viele „Autonome“. Gruppen von „Schwurblern“ ziehen vom Marienplatz kommend Richtung Schwabing. Polizeieinheiten werden in Stellung gebracht, Helme aufgesetzt. Sie schützen die „Autonomen“ vor Übergriffen, die aber nicht erfolgen. Die „Autonomen“ werden nur ausge-
lacht. – Meyer denkt deprimiert über das Versagen der „Linken“ nach. Sich selbst als „links“ zu bezeichnen, erscheint ihm zur Zeit nur noch peinlich.1

Nachdem Werner diesen Text gelesen hat, meint er in einem Brief: „NEIN, ich schäm mich nicht dafür, die anderen sollten sich schämen dafür, dass sie ihre systemkritische Haltung gegenüber Kapitalismus, den Großkonzernen und der beiden dienenden Politik vergessen haben und die Unterstützung staatlicher Ordnungspolitik hinter dem Schleier der Pandemiebekämpfung ver-
steckt haben.“

Das Bündnis „München solidarisch“ ruft zu einer weiteren Kundgebung am Mittwoch, den 12. Januar auf. Die Versammlung ist um 18.00 Uhr auf dem Odeonsplatz für 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angemeldet. Das Bündnis bekennt sich damit gegen Verschwörungsmythen, Antisemitismus und Corona-Verharmlosung und für Solidarität mit Risikopatientinnen und -patienten sowie Arbeitenden im Gesundheitswesen. „Wir stehen für Solidarität statt Verschwö-rungsideologien und wollen dem Hass und der Hetze der Querdenkenden nicht mehr die Straße überlassen.“ sagt Susanne Mesan, eine der Initiatoren des Bündnisses „Rechtsextreme Gruppie-rungen mit Umsturzfantasien und Antisemitismus setzen sich an die Spitze der Querdenken-Be-wegung und stellen dabei eine echte Bedrohung für unsere Demokratie dar." In München seien be-reits mehrmals Polizeiketten bei illegalen „Spaziergängen“ von den Querdenkerinnen und Quer-denkern gewaltsam durchbrochen worden, dabei seien Kinder als Schutzschilde gegen die Polizei missbraucht worden. Auch in namhaften Telegram-Gruppen werde vereinzelt immer wieder zu Gewalt aufgerufen. „Dagegen zu mobilisieren ist für uns staatsbürgerliche Pflicht. Bei Gewalt, Um-sturzfantasien und Mordaufrufen gegen Politiker, Journalist*innen und Wissenschaftler dürfen wir nicht wegschauen. Da muss man handeln!“, fügt Maximilian Meier, ein Organisator im Bündnis, hinzu.

Richy Meyer: „Ich erinnere mich noch sehr genau, von wem ich im letzten halben Jahrhundert im-
mer wieder dazu aufgefordert wurde, meiner ‘staatsbürgerlichen Pflicht’ nachzukommen.“ Groß-
zügig gerechnet, sind gerade mal 200 Menschen am 12. Januar auf dem Odeonsplatz. Zur gleichen Zeit spazieren Hunderte durch die Innenstadt, sammeln sich, trennen sich, um sich dann wieder zu versammeln. Tausend Polizeibeamte sind im Einsatz. Der Polizeibericht: „Nach dem aktuellen vor-
läufigen Stand kam es zu fünf Anzeigen nach dem Infektionsschutzgesetz, zu ca. 110 Ordnungswid-
rigkeiten gegen die Allgemeinverfügung und zu ca. zwölf Strafanzeigen, u. a. wegen Delikten wie Widerstand (4x), einem tätlichen Angriff, bei dem ein Polizeibeamter leicht verletzt wurde, zwei Beleidigungen sowie zwei Strafanzeigen nach dem Versammlungsgesetz wegen dem Mitführen von Waffen (Messer und Tierabwehrspray). Zudem wurden zwei Personen angezeigt, welche zu Ver-
sammlungen aufriefen. Momentan sind noch nicht alle Maßnahmen der Polizei abgeschlossen. Die gemeldeten Fallzahlen können sich noch verändern.“

Eine ältere Dame, die vor der Theatinerkirche steht, spricht Meyer an: „Was halten Sie davon? Ich bin seit einem halben Jahrhundert auf Demos. Gegen den Paragraphen 218, gegen die Nachrüs-
tung, gegen Wackersdorf, gegen das Polizeiaufgabengesetz. Wir hatten bei allen Demonstrationen immer auch obskure Mitdemonstranten. Natürlich sorgten wir dafür, dass niemand von denen vom Podium aus etwas sagen konnte. Aber da waren diese Leute immer. Wir hätten doch nie auf unsere Proteste gegen Wackersdorf verzichtet, nur weil sich auch Nazis beteiligten.“ Meyer ist hin und hergerissen. Auf jeden Fall findet er es gut, dass ihn die Dame anspricht. Aber dann stellt er eine Frage: „Ich weiß nicht, wieviele Anhänger des ‘Dritten Wegs’ oder anderer rechtsextremer Gruppen hier mitmarschieren und die ‘Spaziergänge’ für sich reklamieren, ich weiß aber, dass die rechtsextremen ‘Freien Sachsen’ inzwischen auf Telegram derzeit 133.000 Follower haben. Macht Sie das nicht besorgt?“ Die Dame sieht ihn nachdenklich an.

Sogenannte Querdenker nutzen den Mittwochabend, 19. Januar, für spontane Kundgebungen, nachdem das Verwaltungsgericht einem Eilantrag gegen ein Verbot unangemeldeter Corona-Pro-
teste stattgegeben hat. Dabei ist eine wichtige Frage überhaupt nicht geklärt. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist ein bloßer Verstoß gegen die Anzeigepflicht von Versammlungen voraus-
sichtlich keine Rechtfertigung für präventive Verbote, erklärten die Richter. Es spreche Überwie-
gendes dafür, dass sich dies im Hauptsacheverfahren als unvereinbar mit der vom Grundgesetz geschützten Versammlungsfreiheit erweisen könnte. Die Stadt München habe demnach nicht ausreichend dargelegt, dass eine unmittelbare und nur durch ein Verbot abwendbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestehe. Anstelle eines präventiven Versammlungsverbots müsse zu-
nächst die Möglichkeit nachträglicher Beschränkungen von Versammlungen ausgeschöpft werden, erklärte die Kammer. Verwaltungsgericht: Beschluss bezieht sich nur auf Antragsteller. Daraufhin protestieren annähernd Tausend Menschen gegen die Corona-Politik. Außerdem trifft sich eine kleine Gruppe Gegendemonstranten vor der Feldherrnhalle.

Mittwoch, 26. Januar: Etwa 3.000 Kritiker der staatlichen Impfmaßnahmen versammeln sich am Abend auf dem Königsplatz. Es sind nicht einmal 100 Leute, die auf dem Odeonsplatz dagegen demonstrieren. Trotzdem meint Meinhard Creydt zu den „Spaziergängern“: „Teilnehmer an der Marktwirtschaft sehen ihre Freiheit darin, ihrem speziellen Privatinteresse, das anderen Privatin-
teressen entgegensteht, zu folgen. Sie wollen sich dafür die eigene Arbeit, das eigene ‚Investment‘ und die ‚Geschäftspartner‘ aussuchen. In der Marktwirtschaft ist immer der Übergang angelegt von einem individuellen Gebrauch der eigenen Freiheit, der die Interessen anderer bei der Durchset-
zung des eigenen Interesses wohl oder übel taktisch-instrumentell berücksichtigt, zu einem Frei-
heitsverständnis, das sich von dieser Beachtung anderer Interessen löst. Einige Maximen der Marktwirtschaft lauten: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste. Mir hilft niemand, warum sollte ich jemand helfen? Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen. Verschon mein Haus, zünd andere an (St. Florians-Prinzip). Wenn andere die Gesetze einhalten, soll’s mir sehr recht sein; meine Aus-
nahme gönn’ ICH mir!‘ Die Auffassungen vieler Demonstranten gegen die Covid-Politik stellen eine Variante dieser ganz normalen ideologischen Auffassungen dar.“2

Am Mittwoch, 2. Februar, befinden sich wieder 100 Menschen vor der Feldherrnhalle, während etwa 1.500 „Spaziergänger“ durch die Innenstadt ziehen und den Polizisten Schwierigkeiten berei-
ten. Soll das jetzt ewig so weiter gehen? Am Mittwoch, 9. Februar, wollen sich „Spaziergänger“ um 17.30 Uhr auf dem Königsplatz treffen, um von dort wieder loszuziehen. Dann machen etwa 1.000 Menschen die Innenstadt unsicher. Die Polizei kesselt größere Gruppen ein. Etwa 500 Menschen werden angezeigt.

2011/12 demonstrierten inspiriert von der Mobilisierung des Arabischen Frühlings unter dem Mot-
to „Democracia Real Ya“ (Echte Demokratie jetzt!) Tausende „Indignados“ (junge Empörte) in rund 150 spanischen Städten für wirtschaftliche und soziale Reformen. Ihr Protest richtete sich vor allem gegen die Unfähigkeit der etablierten Parteien. So entstanden Bürgerforen, die nach den spa-
nischen Regional- und Kommunalwahlen auf Anhieb in sämtliche Parlamente gewählt wurden. Die Forderung nach mehr demokratischer Teilhabe veranlasste AktivistInnen, die Online-Plattform Consul zu entwickeln. Seit 2015 verpflichtete sich der Madrider Stadtrat, Abstimmungsergebnisse auf Consul in analoge Politik zu übertragen. Das heißt: Wer sich auf dieser Open-Source-Plattform artikuliert, ist nicht mehr wie früher Bestandteile eines unverbindlichen Diskussionszirkels. Inzwi-
schen verwenden über 150 Städte weltweit Consul, auch München.3

Antifa nt ruft unter dem Motto „Gemeinsam gegen Pandemie, Staat und Kapitalismus“ zur Demo auf. Im Aufruf heißt es: „Das Virus wütet weiter, die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern sind noch prekärer als davor und die rechte Sammelbewegung von Querdenken & Co radikalisiert sich weiter. Seitdem sich SARS-COV2 im Teamwork mit Staat und Kapital überall auf der Welt erfolgreich ausbreiten konnte, sind dem Virus mehr als 5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, alleine in Deutschland fast 120.000. Ein Großteil dieser Tode hätte verhindert werden können, würden wir in einer Gesellschaft leben, in welcher der Schutz von Leben und Gesundheit nicht einer kapitalistischen Verwertungslogik untergeordnet werden müsste. Und so ist es nicht verwun-
derlich, dass sich die staatlichen Maßnahmen nicht an der Gesundheit der Bevölkerung orientie-
ren. Im Kern ging es stets darum, den kapitalistischen Normalbetrieb so gut wie möglich aufrecht zu erhalten und dem Kapital nicht zu viel Opfer abzuverlangen. Apropos: Das sind genau die ge-
sellschaftlichen Rahmenbedingungen, die dazu geführt haben, dass viele der großen Unternehmen in den letzten beiden Jahren satte Gewinne einfahren konnten. Die Pandemie wirkt wie ein Booster sozialer Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Haben und Beherrscht-
werden hat sich eklatant ausgeweitet. Auch weltweit hat diese Politik Folgen: Im globalen Süden mangelt es nicht nur an nötigen und bezahlbaren Tests, sondern dank der ausbleibenden Freigabe der Impfpatente auch an ausreichend Impfstoff. Dadurch wird die Entstehung neuer Varianten begünstigt, wie zuletzt Omikron, und die Pandemie wird unnötig verlängert. So verheerend die La-
ge gerade ist, ein Zurück zur vorpandemischen Normalität kann es für uns nicht geben, denn die war auch ohne Covid von der systematischen Zerstörung von Menschen und Lebensgrundlagen ge-
prägt. Das Virus bringt das System nicht ins Wanken – das müssen wir schon selber tun – kollek-
tiv, solidarisch, kämpferisch.“ Die Slogans: Pharmakonzerne enteignen – Impfstoff für alle! Gegen den autoritären Seuchenstaat! Gegen Querdenken und Co. Für die befreite Gesellschaft! 23. Febru-
ar, 18:30 Uhr, Fraunhoferstraße (Ecke Reichenbachstraße)


Es sind nicht viele, die versuchen, die Menschenkette zu bilden. Aber auch bei den Kundgebungen und Demonstrationen der Kritiker der staatlichen Corona-Massnahmen kommen immer weniger Menschen. Offenbar schläft der Konflikt ein.


Am 9. November demonstrieren um 18.25 Uhr 600 „Querdenker“ auf dem Max-Joseph-Platz. 300 Gegendemonstranten stehen am Rand der Versammlung, unter ihnen Marian Offmann. Dem fällt ein Plakat mit Davidstern auf. Offenbar zieht ein „Querdenker“ eine Parallele: Impfgegner würden heute so diskriminiert wie vor 100 Jahren die Juden. Als Offmann dies moniert, sei es, so ein Poli-
zeisprecher, zwischen ihm und zwei Demonstrierenden zu Beleidigungen gekommen. Offmans Glaube sei thematisiert worden, man habe sich „einmal mit sittlich abwertenden Äußerungen, ein-
mal mit politisch abwertenden“ gegen den ehemaligen Stadtrat gewandt. Weil Offman sich weigert, zur Aufnahme der Anzeige die Versammlung zu verlassen, wird er von zwei Polizisten an beiden Armen gepackt und ruppig abgeführt.


30 Tage Knast für Klimaproteste?! (Siehe http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/5602) So lange sitzen 12 Klimaaktivist:innen ohne Verurteilung in München in Haft. Grundlage ist die Präventionshaft im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (BayPAG), das mit der Begründung der Terrorbekämpfung in Bayern eingeführt wurde. Im Stile eines autoritären Regimes wird es nun mit unverhältnismäßiger Härte gegen unliebsame Proteste eingesetzt.4 Die Demonstration gegen das BayPAG und für Klimaproteste führt am Sonntag, 13. November, um 14 Uhr vom Wettersteinplatz zwei Kilometer bis zur JVA Stadelheim. 1.190 Menschen nehmen an der Demo teil. Gezählt! Ohne Journalisten, Fotografen, Verteiler und Polizisten! Hagen Pfaff, einer der Sprecher des Organisa-
tionsbündnisses, meint: „Sie setzen sich für den Schutz unserer Lebensgrundlagen ein und werden dafür willkürlich weggesperrt. Währenddessen zerstören Staat und Konzerne weiterhin ohne jegli-
che Strafe unseren Planeten.“5 Seit Donnerstag, 10. November, befindet sich einer der gefangenen Klimaaktivisten, Umweltingenieur Wolfgang Metzeler-Kick, im Hungerstreik. Er schreibt:

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Am Samstagvormittag, 26. November, lassen die Behörden 19 Aktivistinnen und Aktivisten frei.

Am 28. November bekommt der Verantwortlich dieser Seite folgende Mail: „Die extreme Rechte gibt vor, sich als einzige politische Kraft, um die Sorgen der Menschen zu kümmern, die stark von sozialen Verwerfungen betroffen sind und schürt Abstiegsängste des Mittelstandes. Seit 2020 macht sie außerdem gegen die Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie mobil und ar-
beitet mit der Pandemieleugner*innenszene zusammen. In deren Weltsicht wurde die Pandemie lediglich von Verschwörer*innen inszeniert, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Seit mittler-
weile zweieinhalb Jahren veranstaltet die verschwörungsideologische Szene auf dieser inhaltlichen Grundlage Proteste in München, greift seit Jahresbeginn 2022 aber zunehmend auch Themen wie den Krieg in der Ukraine und einen möglichen Energieengpass auf. Einige ihrer Vertreter*innen schrecken dabei vor Gewalt nicht zurück und attackieren vor allem bei Versammlungen Journali-
st*innen und Gegendemonstrant*innen. – Anne Wild, Leiterin der Fachinformationsstelle Rechts-
extremismus München (firm), erklärt: ‚Die extreme Rechte und die Pandemieleugner*innenszene arbeiten strategisch zusammen: Sie verbreiten ähnliche Positionen und Inhalte, verteilen die glei-
chen Materialien und zeichnen dieselben Feindbilder. Nicht zuletzt stehen sie Seite an Seite auf Münchens Straßen, zum Beispiel bei den wöchentlichen Demonstrationen organisiert von der Gruppe „München steht auf“.‘ – Für die folgenden Monate planen extreme Rechte und Pandemie-
leugner*innen, eine mögliche soziale Krise für sich auszunutzen und eine Anlaufstelle für alle Un-
zufriedenen zu werden. Ob ihnen das gelingt, wird von inneren aber auch äußeren Faktoren wie dem Umgang der Zivilgesellschaft mit den Protesten abhängen. Die firm nimmt diese Faktoren in einer eigenen Analyse in den Blick und skizziert das Potential für extrem rechte und verschwö-
rungsideologische Mobilisierungen im Winter 2022 in München. Der Text ist unter der folgenden Adresse abrufbar: https://www.feierwerk.de/firm/material/rechte-undverschwoerungsideologische-mobilisierungen.“


1 Siehe die Bilder der Kundgebungen „München solidarisch oder München steht auf“ von Richy Meyer. Siehe auch https://www.nachdenkseiten.de/?p=79626 und https://igel-muc.de/vigel.php?video_uid=20220110-munich-c-demo-iggy_pop-nico-lieder-german_ancient_songs-bbc6_artistscollection-raw1stpart.mp4 sowie https://igel-muc.de/vigel.php?video_uid=20220114-munich-c-demo-iggy_pop-nico-lieder-german_ancient_songs-bbc6_artistscollection-raw2ndpart.mp4 und https://www.isw-muenchen.de/2022/01/wirtschaftskrise-pandemie-der-zentralbanker-covid-19-das-wahre-an-den-verschwoerungstheorien-und-die-aufgabe-der-linken/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=isw+Newsletter+2020-01.

2 https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/panorama/corona-virus-massnahmen-demonstranten-protest-6845.html

3 Näheres unter https://consul.mehr-demokratie.info/hintergrund und konkret für München: https://unser.muenchen.de/verkehrskonzept22

4 Siehe https://www.telepolis.de/features/Mit-Praeventivhaft-gegen-Klima-Aktivismus-Schild-und-Schwert-der-CSU-7335287.html von Claudia Wangerin.

5 Siehe die Bilder der Demonstration „anti-pag“ vom 13. November von Wolfgang Smuda und hier das Grußwort von Konstantin Wecker: https://www.weckersblog.de/post/sie-k%C3%B6nnen-unseren-protest-nicht-verhindern-wenn-wir-es-nicht-zulassen

6 Quelle: Letzte Generation

Überraschung

Jahr: 2022
Bereich: Bürgerrechte