Flusslandschaft 2024

Rechtsextremismus




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Im Landhotel Adlon bei Potsdam kamen am 25. November des vorigen Jahres Mitglieder der Al-
ternative für Deutschland
(AfD), der persönliche Referent von Alice Weidel, der Rechtsextreme Martin Sellner, ein junger „Identitärer“, zwei CDU-Mitglieder und private Unterstützer der rechten Szene zusammen. Anwesend war auch Roland Hartwig, seit 1999 Chef-Jurist des Bayer-Konzerns und ehemaliger Vorsitzender des Rechtsausschusses des Verbands der Chemischen Industrie. Die Recherche-Plattform Correctiv deckt dieses geheime Treffen auf. Sein Plan: Millionen Menschen aus Deutschland zu vertreiben.2 Nachdem dieses Treffen bekannt wird, kommt es deutschlandweit zu zahlreichen Demonstrationen. Häufig wird ein AfD-Verbot gefordert. Am Sonntag, 21. Januar, findet in München eine „Demonstration für Demokratie und Vielfalt“ statt. Unter dem Motto „Ge-
meinsam gegen rechts“ beginnt um 14 Uhr die Kundgebung am Siegestor, organisiert von einem Bündnis aus rund 150 bundesweiten Organisationen. Der Protestzug soll über die Ludwigstraße, Ungererstraße, Potsdamer Straße und Leopoldstraße zurück zum Siegestor führen. Mindestens 100.000 sind nach Polizeiangaben zwischen Odeonsplatz und Münchner Freiheit versammelt; es ist verdammt eng. Robert Valentin Hofmann, der fotografiert, berichtet: „Sehr viele Menschen ha-
ben mit viel Fantasie persönlich geschriebene Plakate hochgehalten. Es gab kaum Blockbildungen, kaum identifizierbare Gruppen, sondern in der überwiegenden Mehrzahl ‚unorganisierte‘ Individu-
en aller Altersgruppen. Vermutlich waren viele zum ersten Mal auf einer Demonstration. Es gab keine Parolen, keine vorgefertigten Banner, keinen Agitprop. Die Stimmung war gelöst, fast heiter, die Menschen gingen respektvoll miteinander um.“ Peter Brüning, der ebenfalls fotografiert, meint: „Erfreulich war, dass auf Transparenten keine politischen Parolen zu lesen waren. Es war die Zivilgesellschaft, die hier auf die Straße ging.“ Zwischen Odeonsplatz und weit über die Münch-
ner Freiheit hinaus finden sich Demonstrantinnen und Demonstranten. Zugänge zur U-Bahn sind schon bald gesperrt. In der Potsdamer Straße 1A, durch die die Demo auch führen soll, befindet sich das Danubia-Haus mit seinem provozierendes Banner, das von der Polizei mit Metallgittern gesichert ist. Die Veranstalter sprechen von 250.000 Teilnehmern. Nachdem das Gedränge so grenzwertig wird, dass es zu Panik kommen kann, beendet die Versammlungsleitung die Kundge-
bung kurz vor 15 Uhr. Ein kleinerer Teil der Demonstrantinnen und Demonstranten, etwa 2.500 Personen, läuft trotzdem die ursprüngliche Route entlang.3

Allenthalben wird über ein Verbot der AfD diskutiert. Was dagegen spricht: „Ein … Problem ist, dass ein Verbot der AfD keinen Deut an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern würde, aus denen sich Rassismus und Autoritarismus speisen und die faschistischen Kräften die Mobilisierung erleichtern. Diese Verhältnisse liegen heute zentral in einer Vielfachkrise des globalen Kapitalis-
mus, die mit autoritären und neoliberalen Scheinlösungen bearbeitet wird. Anstatt auf die multiple Krise mit einem egalitären und solidarischen Gesellschaftsmodell zu antworten, das ökologischen Umbau mit einem radikalen Ausbau sozialer Demokratie kombiniert und so für breite Schichten attraktiv ist, treiben die Parteien der ›Mitte‹ die Absicherung neoliberaler Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zunehmend autoritär voran, durch mehr Repression und Grundrechtsab-
bau. Es wäre historisch nicht das erste Mal, dass rechts-bürgerliche Kräfte alle demokratischen Grundsätze über Bord werfen, um die kapitalistische Ordnung im eigenen Interesse zu verteidigen – das Ende der Weimarer Republik ist nur ein Beispiel hierfür. Aus dieser gesellschaftlichen Dyna-
mik resultieren weitverbreitete Unsicherheit, soziale Verwerfungen und autoritäre Kipppunkte. Extrem rechte Kräfte reagieren auf diese Situation mit egoistischen und rassistischen Ressenti-
ments und faschistischen Scheinlösungen. Ampel-Regierung und CDU/CSU setzen dieser Dynamik außer Rhetorik und Sonntagsreden wenig entgegen. Stattdessen treiben sie selbst eine autoritäre Absicherung ihrer fortgesetzt neoliberalen Politik voran, u.a. in Bezug auf Migration (Lager an den EU-Außengrenzen, neue Abschiebegesetze), innere Sicherheit (neue Polizeigesetze, biometrische und digitale Überwachung) und Militär (Aufrüstung für eine ›kriegstüchtige‹ Bundeswehr).“4


Fridays for Future München ruft zu einem „Lichtermeer für Demokratie“ auf: „Am 11. Februar um 18 Uhr bilden wir ein Meer aus Licht gegen das Dunkel von Hass und Hetze, Rassismus und Anti-
semitismus!“ Es dürften knapp Hunderttausend Teilnehmer sein. Beim Verantwortlichen dieser Webseite (im Folgenden: G) trifft sich am Tag danach eine bunte Truppe, die anfangs kein Interes-
se an einer politischen Diskussion hat, aber dann doch in gefährliches Fahrwasser steuert. G, des-
sen Gedächtnis altersbedingt nachlässt – nebenbei: er hat auch Wortfindungschwierigkeiten –, macht Notizen:
J: »Das war gestern super, dieser Aufmarsch. Die AfD wird an Bedeutung verlieren.«
F: »Glaubst wirklich?«
R: »Ich krieg Bauchweh, wenn ich von den Mainstream-Medien gelobt werd.«
D: »Ist doch gut, endlich in der Menge zu schwimmen wie der Hering in der Isar.«
R: »AfDler sind Scheiße, keine Frage, aber sie sind Retro-Faschisten. Die kommen nie über 25 Prozent mit ihrem braunen Geschwätz, das immer noch im Sound von „Mein Mampf“ tönt.«
P: »Wir waren doch immer gegen Rechtsaußen!«
R: »Und dabei vergessen wir Olaf, Robert, Annalena, Panzer-Toni und Agnes Stracks-Rheinmetall, die unentwegt die Mainstream-Medien bevölkern. Es ist ja der Sinn der Sache: Wenn die AfD den Bösewicht gibt, gehören logisch die anderen zu den Guten. Die AfD und die „Parteien der Mitte“ ergänzen sich gegenseitig. Die Aufgabe der AfD ist es, den wahren Charakter der Herrschaft zu verschleiern.«
F: »Dabei sind doch die „Demokraten der Mitte“ das Objekt unsere Begierde: Olaf, der Vergessli-
che, den manche an den „Klimakanzler“ erinnern wollen, indem sie sich festkleben, Annalena, die sich im Krieg mit Russland befindet, Schuldenbremser Christian oder der wendige Baum-Um-
ärmler Markus, der immer weiß, woher der Wind der Mehrheitsmeinung weht.«
J: »Liebknecht hat vor über Hundert Jahren gesagt: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“
R: »Und wer ist das nun? Der smarte Kryptofaschist Hubert oder die Spatenbrauerei oder Siemens oder wer?«
F: »Wenn du schon meinst, der Hauptfeind stehe im eigen Land, schau mal, wo überall bei uns die Yankees ihre Stützpunkte haben. Der eigentliche Hauptfeind ist der gobale Hegemon, das „Imperi-
um“ mit seinem militärisch-industriellen Komplex, mit BlackRock, mit BlackStone, mit BigData, mit BigPharma und natürlich dessen Thinktanks, das WorldEconomicForum etc. etc. Unsere Staatskünstler sind doch nur Marionetten des „Imperiums“.«
G: »Ich habe mal kapiert, dass es den Hauptwiderspruch und Nebenwidersprüche gibt.«
R: »Ist schon recht, Alter! Du klebst immer noch im vorigen Jahrtausend.« (Stimmengewirr)
J (laut): »Aber F hat doch Recht. Die AfD ist nur ein Nebenproblem, die Regierung ist ein größeres Nebenproblem, aber das Hauptproblem ist doch, dass das „Imperium“ mit seiner NATO immer wieder Kriege anheizt und die dann mit dem Argument der Verletzung von Menschenrechten bis zum Regime-Chance durchzieht. Wir stehen knapp vor dem Dritten Weltkrieg.«
W: »Wir sollten uns nicht um die AfD kümmern oder um Gendersternchen oder um Massentier-
haltung, so grausig sie ist, wir sollten uns nicht ablenken lassen, sondern fordern: „Diplomatie statt Waffenlieferungen, nie wieder Krieg, NATO raus aus Deutschland, Deutschland raus aus der NATO!“«
P: »Da kriegen wir nie Mehrheiten für.«
F (überheblich): »A so a Schmarrn!«
P (scharf): »Macho-Arsch!«
(G fragt, ob er dieses Gespräch auf seine Webseite setzen darf.)
J: »Ohne Deinen eigenen ideologischen Senf!«
F: »Schon, aber anonymisiert!«
D: »Glaubst wirklich, die Schlapphüte interessieren sich für uns?!«
P: »Wenn sich jemand für uns interessiert, dann die Schlapphüte.«
G: »Ist doch prima, vielleicht lernen sie was.«
(Stimmengewirr – G öffnet eine weitere Flasche Wein.)

Die Demonstration zum Gedenken an die Opfer des faschistischen Anschlags in Hanau vor vier Jahren, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurto-
vić, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov findet am Montag, 19. Februar, um 18 Uhr auf dem Goetheplatz statt.


1 Fotos: Helga

2 Siehe https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/.

3 Siehe die Fotos der Kundgebung „gemeinsam gegen rechts A“ von Robert Valentin Hofmann, „gemeinsam gegen rechts B“ von Peter Brüning und „gemeinsam gegen rechts C“ von Marion Blomeyer.

4 https://www.grundrechtekomitee.de/details/afdverbotsdebatte

Überraschung

Jahr: 2024
Bereich: Rechtsextremismus