Flusslandschaft 1979
Atomkraft
Die Anti-AKW-Bewegung entstand etwa 1971. Bis 1975 wurde sie zunächst von Initiativen und Aktionsgemeinschaften gegen Umweltzerstörung getragen. Etwa um 1974 schlossen sich einige „Linke“ der Bewegung an. 1975 bis 1977 waren die Auseinandersetzungen vor allem in Whyl, Brokdorf, Grohnde und Kalkar von Militanz geprägt. Die „Linke“ hatte daran nur geringen Anteil; der Widerstand kam aus der „Mitte“ der Bevölkerung. Viele Münchnerinnen und Münchner reisten zu den Großdemonstrationen. Vom Ende 1977 bis etwa Mitte 1979 kam es zu Spaltungen in der Anti-AKW-Bewegung: Hier Militante, dort Gewaltfreie, hier Außerparlamentarische, dort Parla-
mentarische. Man konzentriert sich außerdem zunehmend auf die AKW-Planungen in der näch-
sten Umgebung.
In München entsteht verhältnismäßig spät eine Antiatomkraftbewegung. Bei den im Folgenden angeführten Kundgebungen sind aber immer auch Münchnerinnen und Münchner dabei: Bundes-
weit beginnt sich diese Bewegung im Juni 1974 mit einem Sammeleinspruch von 90.000 Bürgern gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl zu formieren. Am 14. Oktober versammeln sich 100.000 Menschen in Bonn, um gegen Atomkraftwerke zu demonstrieren. Am 5. November 1974 erfolgt die Baugenehmigung für das AKW in Wyhl. Am 23. Februar 1975 demonstrieren 28.000 Menschen auf dem Bauplatz in Wyhl. Am 31. März stoppt ein Gerichtsbeschluss den Bau. Am 31. März 1976 demonstrieren 20.000 Menschen gegen das geplante Atommüllendlager in Gorleben. Am 13. November 1976 versammeln sich 30.000 Menschen gegen das geplante Atomkraftwerk in Brokdorf; mehr als 700 Menschen werden bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei verletzt. Am 24. September 1977 beteiligen sich 50.000 Menschen an einer Demonstration gegen den Schnellen Brüter, ein erweitertes AKW mit höherer Brennstoffausnutzung. Die Antiatomkraft-
bewegung löst Gegenreaktionen aus: Rund 10.000 Arbeitnehmer setzen sich auf einer Kundge-
bung in Bonn für die Nutzung der Atomenergie ein. Am 10. November 1977 sprechen sich im Dortmunder Westfalenstadion, logistisch von Bergbauunternehmen unterstützt, für die Nutzung von Kohle und Kernenergie aus.
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Bundeskanzler Helmut Schmidt spricht sich 1979 für die Errichtung weiterer Atomkraftwerke aus. In München mobilisiert die Aktion Stromzahlungsboykott (Strobo). Die Atomkraftgegner über-
weisen zehn Prozent ihrer Stromrechnung auf ein Treuhandkonto mit der Forderung nach dem Ausstieg aus der Atomenergie und nach der Förderung erneuerbarer Energiequellen.3 Am 23. März demonstrieren Atomkraftgegner in der Michaelskirche gegen den Ausbau der Atomindustrie.4
Der Reaktorkern des Atommeilers Three Mile Island bei Harrisburg, der Hauptstadt von Pennsyl-
vania, schmilzt am Morgen des 28. März fast zur Hälfte und kann nur in letzter Sekunde stabili-
siert werden. Am 29. März werden schwangere Frauen und Vorschulkinder im Umkreis von knapp zehn Kilometern aufgefordert, die Gegend zu verlassen. 1984 beginnt man, den zerstörten Reaktor in langwieriger Kleinstarbeit zu zerteilen und zu entsorgen. „3.000 Fachkräfte sind elf Jahre lang daran beteiligt. Kosten: Mehr als eine Milliarde Dollar, mehr als der Reaktor gekostet hat …“5 — Am 15. April 1979 protestieren Jugendliche im Dom gegen die Atomentsorgungsanlage Gorleben.6 — 5. April: „Nach einem Reaktorunglück in den USA wollen Münchner Atomkraftwerksgegner Stromzahlungen verweigern. Eine ‚Initiativgruppe Stromzahlungsboykott’ kündigt an, ab 2. Mai würden hundert Münchner Haushalte nur noch neunzig Prozent der Pauschale an die Stadtwerke überweisen, die restlichen zehn Prozent kämen auf ein Treuhandkonto. In einer Presseerklärung der Gruppe heißt es: ‚Wir können es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, dass durch unsere Stromzahlungen der Bau und Betrieb von Atomkraftwerken finanziert wird.’ Die Stadtwerke erklä-ren dazu, wer nicht ordnungsgemäß zahle, dem werde der Strom gesperrt. Es sei völlig unerheb-lich, ob die ganze Schuld oder nur ein Zehn-Prozent-Betrag einbehalten werde.“7
Am 2. Mai kommt es zu einem Protestmarsch der Atomkraftgegner.8
Bis 1972 trat der Bund Naturschutz (BN) noch für die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ ein. Er sah in ihr eine positive Alternative zur Zerstörung der Landschaft durch Stauseen und Wasser-
kraftwerke. Mitte der 70er Jahre wuchsen intern die Zweifel an dieser Haltung. Seit Ende der 70er Jahre gehört der BN zu den entschiedenen Anti-AKW-Gegnern.
(zuletzt geändert am 15.6.2020)
1 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
2 Privatsammlung
4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 70/1979.
5 Jeanne Rubner: „Chronik einer Kernschmelze. 1979 standen die USA vor einer nuklearen Katastrophe – das Unglück von Harrisburg geschah ohne Erdbeben“ in Süddeutsche Zeitung 74 vom 30. März 2011, 18. Siehe „Atomkraft“ 1981.
6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 88/1979.
7 Stadtchronik, Stadtarchiv München.
8 Vgl. Münchner Merkur 101/1979.