Flusslandschaft 1980

Atomkraft

»Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir wider-
spruchslos hinnehmen.« Arthur Schopenhauer

In München ist die Initiative Stromboykott (STROBO) aktiv. Am 22. Juni veranstaltet STROBO eine Radldemo gegen die Isar-Amper-Werke von Germering über Puchheim, Gröbenzell und Ol-
ching nach Fürstenfeldbruck. Im Frühjahr 1980 sind es etwa hundert Menschen, die sich an der Aktion beteiligen. Nach zweiundzwanzig Monaten Boykott findet der erste Prozess gegen Aktive am 18. Februar 1981 im Amtsgericht in der Pacellistraße im Zimmer 410 statt.1

Am 4. Februar-Wochenende findet in München unter der Beteiligung kritischer Wissenschaftler ein bundesweites Arbeitstreffen statt. Unter dem Thema „Neuester Stand des Atomprogramms und Widerstand der Bevölkerung“ laden Bürgerinitiativen, Sprecherrat der Uni und beteiligte Wissenschaftler zu einer Großveranstaltung am 22. Februar in das Audimax der Universität.

Vom 5. bis 7. Juni protestierten Landshuter AKW-Gegner mit einem Sitzstreik vor der Regierung von Niederbayern.

Ein Salzstock im Untergrund bei der ostniedersächsischen Gemeinde Gorleben, Landkreis Lü-
chow-Dannenberg, ist als Endlager für alle Arten von radioaktiven Abfällen vorgesehen. Die Probe-
bohrungen für dieses Endlager werden von starken Protesten begleitet. Am Bohrloch 1004 entsteht 1980 ein Hüttendorf. Zeitweise besetzen bis zu 5.000 Atomkraftgegner die Umgebung der Bohrlö-
cher, unter ihnen auch Münchnerinnen und Münchner. Anfang Juni nach 33 Tagen „Freie Repu-
blik Wendland“: „… Am Dienstagabend waren wir eigentlich schon ganz sicher, dass am nächsten Morgen geräumt wird. Unsere Münchner Bezugsgruppe – wie viele andere auch – ging noch mal die Räumungssituation durch. In den letzten Tagen waren viele Leute dazu gekommen, die infor-
miert werden mussten. Wir waren auf dreißig Menschen angewachsen, davon gut zwanzig aus München und dem südbayrischen Raum. Um 5 Uhr gab’s dann Alarm. Wir frühstückten noch und brachten unser letztes Gepäck in’s Auto. Gegen 6 Uhr sammelten sich alle auf dem Dorfplatz. Wir waren unerwartet viele geworden, etwa 2.500. Viele waren über Nacht angereist, einige hundert wurden noch in den Morgenstunden von Einheimischen an den Polizeisperren vorbei auf den Platz geschleust … Um diese Zeit marschierte auch die Polizei auf. Sie zogen einen weiten Ring um das Dorf, begannen Stacheldraht zu legen und gaben die ersten Aufforderungen zur Räumung durch. Dann begann das lange Warten. Erst gegen 11 Uhr ging die Räumung los. In der Zwischenzeit: Der Staat demonstrierte seinen gesamten Machtapparat, eine große Show von Mensch und Material (Hubschrauberflotte, Wasserwerfer etc.) 6 – 8.000 Mann werdens gewesen sein. Ich konnte das nicht mehr schätzen. Dass sie in der Zwischenzeit damit begannen, um uns her unsere Häuser nie-
derzuwalzen, war eine einzige Provokation … Als die Räumung dann losging, zeigte sich die Strate-
gie, wir sollten zu einer Schlacht provoziert werden (Regierungsdirektor Wandhoff – Verantwortli-
cher für den Polizeieinsatz – hatte am Vortag in der Lokalzeitung genau diese Schlacht angekün-
digt mit Verleumdungen über Gewalttäter, Mollies und Nagelbretter im Dorf 1004), um damit Ent-
solidarisierung zu erreichen: Die ersten Reihen wurden mit brutalem Knüppeleinsatz geräumt … Ergebnis dieser „Schlacht“? 4 Schwerverletzte im Krankenhaus, 13 vorläufig festgenommen (einer wegen Widerstand, die 12 Turmleute wegen Verstoß gegen das Fernmeldegesetz) … Wir konnten durch unseren passiven Widerstand sehr deutlich machen, von wem die Gewalt in diesem Staat ausgeht. Einige Einheimische, mit denen ich kurz nach der Räumung sprach, konnten das gar nicht fassen, wie brutal die Polizei vorgeht …“ 2 – Walter Mossmann nach der Räumung der „Frei-
en Republik Wendland“: „… Ein Teil der Presse hat zynisch und verächtlich über die Gewaltfreiheit berichtet. Wenn du gewaltfrei bleibst, schreiben sie ‚Flasche!’, aber wenn du zurückschlägst, schreiben sie ‚Terrorist!’. In die Pfanne hauen sie uns allemal. Es führt zu nichts, wenn wir den Wert unserer Handlungen nur nach dem Presseecho bestimmen. Irgendwo habe ich gelesen: ‚Schmeißen wir also lieber Mollis, das ist die Sprache, die die Bullen verstehen.’ Sehr richtig, diese Sprache verstehen sie nicht nur, diese Sprache beherrschen sie perfekt. In dieser Sprache können sie antworten, und dann bist du u.U. schneller stumm, als du denkst. Und dann gibt es noch nicht mal eine schöne Leiche. So wie bei uns die Dinge liegen, sprechen die Massen von dir nicht wie von einem Märtyrer, sondern wie von einem tollen Hund, den zu erschlagen eine gute Tat war. So hät-
ten es die Herren doch gerne: Hier die paar Militanten (= Terroristen), dort die erschreckten Mas-
sen, die vor uns größere Angst haben als vor der Atomindustrie …“3

Asterix und Obelix sind auch in der linken Szene eine beliebte Lektüre. Eines Tages erscheint das Heft „Asterix und das Atomkraftwerk“ als zweihundertneununddreissigster Band der Comic-Reihe im Verlag Plutonium. Zeichner der Geschichte ist U. Raub, Texter G. Druck. Dahinter steckt Ulen-
spiegel Druck
aus der Breisacherstraße 12 in Haidhausen.4

Das Bürgerkomitee München Nord erreicht, dass beim Atommeiler der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF) in Neuherberg das atomare Zwischenlager und die Verbrennungsan-
lage aufgelöst werden. „Bemerkenswert ist vor allem auch die Begründung für den Nichtbau der Verbrennungsanlage, die von einem Vertreter des Bundesforschungsministeriums abgegeben wur-
de. Sie lautet: ‚Heftige Proteste im Münchner Norden.’“5

Nachdem der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht den Bau einer Wiederaufberei-
tungsanlage für verbrauchte Brennstäbe (WAA) in Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg abgelehnt hat, erklärt der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß am 3. Dezember, er lasse die Standortfrage in Bayern prüfen.

„Stoiber! Wir soll’n Dir ausrichten, Du sollst gleich, wennst herkommst, an Dings, an Tandler an-
rufen; weil der ander, der Streibl, der will irgendwas von Dir wegen der Sicherheitsbestimmungen oder was, halt, nein: wegen der Risikominimierung der Plutoniumkoordinierung oder irgend so was, gell, denkst dran? Gut. TITANIC“6

Ende des Jahres flattert ein Brief des Kreisverwaltungsreferats verschiedenen Haushalten im Münchner Norden in den Briefkasten, der für Unruhe sorgt.7


1 Vgl. Joachim Lorenz: „STROmBOykott“ in Münchner Zeitung 4 vom November 1980, 5 und Joachim Lorenz: „Wir sind keine Insel“ in Münchner Zeitung 12 vom 15. Juli 1981, 10.

2 Blatt. Stadtzeitung für München 174 vom 20. Juni 1980, 5 f.

3 Blatt. Stadtzeitung für München 175 vom 4. Juli 1980, 6 f.

4 Siehe „Asterix und das Atomkraftwerk“ und „Wir landen einen Bestseller“.

5 Münchner Zeitung 5 vom Dezember 1980, 2.

6 Eckhard Henscheid, Polemiken, Frankfurt am Main 2003, 194.

7 Siehe „Katastrophenschutz im Bereich kerntechnischer Anlagen“.