Flusslandschaft 1949

Nazis

Am 28. April findet eine Demonstration gegen Veit Harlan statt.1

Am 7. Juli verurteilt die Spruchkammer den ehemaligen Präsidenten der Reichsschrifttums-
kammer
Hanns Johst. Die Strafe ist zur Verwunderung der empörten Öffentlichkeit sehr milde.

Im Juli beschließt der Landtag ein Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung. Bis 1950 verhan-
deln die zwölf Münchner Spruchkammern etwa 237.000 Fälle.

Am 14. August findet die erste Bundestagswahl statt. Der Deutsche Block, ein Sammelbecken ehe-
maliger Nazis, ist nicht zur Wahl zugelassen worden; er ruft auf Flugblättern zum Wahlboykott auf. Tatsächlich finden sich neben 391.000 gültigen 6.000 ungültige Stimmzettel. Auf einigen ist zu lesen »Mit keiner Partei einverstanden« und »Ich fühle mich als Weltbürger und wünsche keine Parteikader«. Das Wahlergebnis in München: Die vier Kandidaten der SPD, Walter Seuffert, Franz Marx, Max Wönner und Otto Graf, machen das Rennen.

Bei den »Recontres Internationales« in Genf hält der Philosoph Karl Jaspers am 8. September 1949 einen Vortrag, indem er über Voraussetzungen nachdenkt, die zum Terrorregime des Natio-
nalsozialismus führten.3

Sozialdemokraten, Kommunisten und Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregi-
mes
(VVN)2 gelingt es am 23. Oktober, eine im Zirkus Krone an der Marsstraße 43 geplante Ver-
anstaltung der Vaterländischen Union (VU) zu sprengen.4 – Am 25. November besetzen Antifa-
schistinnen und Antifaschisten einen Saal in einem Lokal in Pasing, um eine Veranstaltung der VU zu verhindern. »Unter den Versammelten ist Otto Kohlhofer. Er wohnt nicht weit von dem Pasin-
ger Lokal entfernt. Dies ist nicht seine erste Aktion gegen Faschisten. Otto Kohlhofer war als Jugendlicher im Kommunistischen Jugendverband organisiert und hatte in den 1930er Jahren Flugblätter gegen die Nationalsozialisten verteilt; in seinem Heimatstadtteil Neuhausen war er
ab 1933, als viele seiner Genossen bereits verhaftet und ins KZ verschleppt worden waren, ein wichtiger Aktivist der KPD gewesen. In die Illegalität gedrängt, hatte seine Gruppe weiterhin antifaschistische Materialien verteilt. 1935 waren die Mitglieder der Gruppe, unter ihnen Otto Kohlhofer, von einem Gestapo-Spitzel verraten worden. Sie wurden verhaftet und in verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Nach zwei Jahren Einzelhaft im Zuchthaus Amberg wurde der 22-jährige Otto Kohlhofer ins Konzentrationslager Dachau gebracht, wo er sieben Jahre dem brutalen Terror der SS ausgesetzt war. Nach der Befreiung begann für Otto Kohlhofer der schwierige Schritt in einen Alltag im Nachkriegs-München. Für die nächsten 40 Jahre seines Lebens hatte Otto Kohlhofer eine ganz klare Handlungsmaxime: „Nie wieder Fa-
schismus, nie wieder Krieg!“ Dafür musste etwas getan werden, besonders in einer Gesellschaft,
in der ein Großteil der Bevölkerung das NS-Regime unterstützt hatte, sehr viele von der NS-Bewe-
gung begeistert waren und sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten. Und so ist er am 25. November 1949 unter den Versammelten in dem Pasinger Lokal, als die Polizei den Ort stürmt. Die Polizisten schlagen auf die Anwesenden ein. Es gibt Verletzte, unter ihnen Otto Kohlhofer …«5

»In München findet ein Prozess gegen den Herausgeber und Cheflektor der Zeitschrift „Revue“, Helmut Kindler, statt, der in einem Artikel behauptet hatte, die NS-Filmemacherin Leni Riefen-
stahl habe für ihren Film „Tiefland“ Konzentrationslagerhäftlinge („Zigeuner“) als Filmstatisten eingesetzt, die später wieder ins Lager zurück und von dort ins Gas deportiert worden wären; der bekannte Wiener Kritiker und Publizist Alfred Polgar, der der Verhandlung beiwohnt, berichtet von der „guten Stimmung im Saal“, von den „heiteren Aspekten“ die viele der Anwesenden dem Thema „Konzentrationslagerhäftlinge“ abgewinnen können und von der breiten Sympathie für
die Klägerin Riefenstahl („Die Nation kann stolz sein auf Leni Riefenstahl!“); Kindler wird am 30. November, weil er für einen unwesentlichen Teil seiner Behauptungen keine ausreichenden Belege vorweisen kann, zu einer Geldstrafe von 600 Mark, ersatzweise 20 Tagen Haft, verurteilt; Richter Geschwändler verpflichtet den Angeklagten darüber hinaus zum Abdruck des Urteils in der „Re-vue“ sowie in drei weiteren Münchner Presseorganen.«6

Karl Stankiewitz berichtet über die Schleusung prominenter Nazis nach Spanien, Südamerika und Nahost. »Meine Reportage erschien am 3. Dezember 1949 in der Abendzeitung unter der rot ge-
druckten Schlagzeile: „Menschenschmuggel-Zentrale München“. Details bestätigte später der „Stern“ in Hamburg, wo ich der Geschichte weiter nachging.«7

(zuletzt geändert am 3.1.2024)


1 Vgl. Abendzeitung 96/1949.

2 Siehe „Kein Freund von Strauß“ von Ernst Antoni.

3 Siehe „Technik ist heute …“ von Karl Jaspers.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 24. Oktober 1949.

5 Katharina Ruhland: »„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“ – Die Vereinigung der Ver-
folgten des Naziregimes und ihre Rolle bei den frühen antifaschistischen Protesten nach 1945« in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 52; vgl. Abendzeitung 284/1949. – »Ehemalige KZ Häftlinge engagieren sich in der VVN: Adi Maislinger, der am 29. April von den amerikanischen Truppen aus dem KZ Dachau befreit wird. Eugen Kessler, 1937 aus Dachau entlassen, wird Soldat und läuft zur Roten Armee über. Am 1. Januar 1949 ist er wieder in München. Alfred Haag wird am 10. Februar ver-
haftet, kommt in das KZ Oberer Kuhberg und dann nach Dachau. Am 1. Februar 1940 kommt er auf Initiative seiner Frau, Lina Haag frei. Bald muss er zur Wehrmacht an die Ostfront. Er gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Im Herbst 1948 ist er wieder zu Hause. Alfred Haag engagiert sich in der VVN besonders für die sozialen Belange der ehemaligen Häftlinge. Er wird zu einen viel gefragten Spezialisten für alle sozialen Fragen … Im August 1945 ist Otto Kohlhofer er wieder in Mün-
chen. Er gründet in München die VVN mit und betont immer den ‚Geist der Lagerstrasse’, d.h. gemeinsam über unter-
schiedliche politische und gesellschaftliche Vorstellungen die Zukunft gestalten. An der Errichtung der Gedenkstätte in Dachau ist er maßgeblich beteiligt. Hans Taschner wurde im Juni 1935 verhaftet, sitzt zwei Jahre im Gefängnis und wird dann nach Dachau gebracht. Am 20. April 1939 wird er entlassen. Am 1. Dezember wird er zum Militär eingezogen.« Ernst Grube am 5. Oktober 2011 im AK Arbeiterbewegung des NS-Dokuzentrums München.

6 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner »Zigeuner«, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 116.

7 https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/rechtsradikalismus-in-muenchen-nachkriegsjahre-350-altnazis-im-hackerkeller-art-453631