Flusslandschaft 1990
Wiedergutmachung/Entschädigung
Im Mai strengen neun Frauen einen Prozess gegen Siemens an. Sie wollen Entschädigung für ihre Zwangsarbeit während des NS-Regimes.1 – „Zwangsarbeiterin abgeschmettert – Eines Tages, das wollte die heute 70jährige Waltraud Blass dem Landgericht München I berichten, kamen die Herren vom nahegelegenen Siemens-Werk ins Konzentrationslager Ravensbrück. Die weiblichen KZ-Häftlinge mussten sich in Reihen aufstellen, und dann wurde jede einzelne Frau von den Siemens-Herren körperlich begutachtet wie eine Maschine auf Erhaltungszustand und Arbeitsfähigkeit. Waltraud Blass, wegen Zugehörigkeit zu einer Widerstandsorganisation eingesperrt, musste fortan täglich in zwölfstündiger Tag- oder Nachtschicht für Siemens schuften – ohne Lohn, den verweigert ihr Siemens bis heute. Der Konzern weist die Klage kühl zurück, ein Leistungsverhältnis habe es lediglich zwischen Siemens und der SS gegeben und nicht zwischen Siemens und Waltraud Blass. Vom Richter wurde sie erst gar nicht gehört. Das Landgericht fertigte die einstige Siemens-Sklavenarbeiterin ab: alles verjährt. Ein altes infames Spiel. Deutschen Zwangsarbeitern wurde bisher stets vor Gericht erklärt, sie kämen mit ihren Ansprüchen zu spät. Ausländische Zwangsarbeiter werden zurückgewiesen, weil sie viel zu früh kämen. Denn nach dem Londoner Schuldenabkommen von 1952 – Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank hatte es durchgesetzt –, könnten solche Ansprüche erst bei einem Friedensvertrag geltend gemacht werden. Und den scheut Kanzler Kohl – gerade auch deswegen – wie der Teufel das Weihwasser.“2
1 Siehe „Die späten Sklaven“ von Karl Stankiewitz.
2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 15 vom 27. Juli 1990, 6. Vgl. auch Süddeutsche Zeitung vom 14. Juli 1990.