Flusslandschaft 1991

Atomkraft

Nachfolgelasten: Im „Abfall“, etwa 500.000 kg Atommüll jährlich, den die deutschen, „billig pro-
duzierenden“ Atomkraftwerke zurücklassen, befinden sich auch ca. 5.000 kg Plutonium 239 (PU 239). Die zehnfache Halbwertzeit, in der die Radioaktivität von PU 239 auf ein Tausendstel abge-
nommen hat, beträgt 244.000 Jahre. Solange müsste der Stoff von der Biosphäre isoliert aufbe-
wahrt werden. Schade, dass im Rechenunterricht in den Schulen nicht gefragt wird, wie viel bei heute üblichen Stundenlöhnen die Bewachung durch bewaffnete Sicherheitsdienste – sagen wir mal: hundert Mann – in diesem Zeitraum kostet. Nebenbei: Für eine Atombombe benötigt man 8 bis 10 kg Plutonium.

Bis April werden über 40.000 Einwerdungen beim bayrischen Umweltministerium gegen die Her-
stellung und den Einsatz so genannter Mischoxid-Brennelemente (MOX-BE) abgegeben. Der für den 4. Juni festgelegte Erörterungstermin wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Juni entsteht die überregionale Koordinationsgruppe SCHUTZ VOR MOX in Günzburg und Augsburg. – 18. April und 17. Juni: Im Siemens-Brennelementewerk Hanau, Deutschlands einzige Fabrik, die Uran- und Plutonium-Brennelemente herstellt, wird bei Unfällen Plutonium freigesetzt. Vier Ar-
beiter und ein Inspektor der EURATOM haben dabei Plutonium eingeatmet. Das Spaltstofflager, das teils unter Siemensaufsicht, teils unter Aufsicht des Bundes geführt wird, wird mit Plutonium verseucht. – Hessens Umweitminister Fischer legt im Juni den Plutonium-Betrieb in Hanau aus Sicherheitsgründen still. Daraus entspinnt sich ein Streit zwischen ihm und dem Bundesumwelt-
minister Töpfer. – Bayerns Umweltminister lässt am 16. Oktober wegen „technischer und admini-
strativer Probleme in Hanau“ das Gundremminger MOX-Verfahren ruhen und wird am 22. Okto-
ber vom bayrischen Ministerrat beauftragt, „nach Klärung der offenen Fragen das Verfahren un-
verzüglich fortzuführen“.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat 10 Millionen Hektar sowjetisches Land verseucht. Zur Zeit liegen die Schätzungen der Kosten des Tschernobyler Unfalls bei 450 Milliarden DM. Die 30.km-Zone um Tschernobayl ist für die kommenden 1.000 Jahre unbewohnbar. Zum „Tscherno-
byltag“ am 26. April finden sich viele Infostände, eine Fotoausstellung und eine Bühne auf dem Marienplatz.1 Um 18 Uhr beginnt eine Demonstration mit Lichtern, Kerzen, Fackeln und Lampions durch die Altstadt.

Auf dem Atomrechtssymposium vom 24. – 26. Juni wird eine Änderung des Atomgesetzes disku-
tiert. Die Mütter gegen Atomkraft (MgA) protestieren am 24. Juni mit einer Demonstration vor dem Europäischen Patentamt.2

Im ehemaligen Erzbergwerk „Schacht Konrad“ bei Salzgitter soll ein Atommüll-Endlager einge-
richtet werden. Die Mütter gegen Atomkraft von Pasing-Obermenzing protestieren dagegen und sammeln bis zum 11. Juli 8.638 Unterschriften für ein Einwendungsverfahren.

Im Sommer verzeichnen die MgA bundesweit etwa 2.000 Mitglieder in vierzig Gruppen.

Jährlich rollen etwa neun geheime Atommülltransporte der Bundesbahn auf dem Weg vom Atom-
kraftwerk Isar I zur Wiederaufbereitung nach La Hague in Frankreich durch Laim und Pasing. Die radioaktive Ladung eines einzigen Waggons entspricht etwa dem zehnten Teil des Fallouts von Tschernobyl, es sind ungefähr 100.000.000.000.000.000 Becquerel. Die Oberflächenstrahlung misst mindestens 200 mrem/h. Das ist hoch, wenn man bedenkt, dass die zulässige Höchstdosis an künstlicher Strahlung für die Bevölkerung bei 30 mrm pro Jahr liegt. Nicht nur das Eisenbahn-
personal, sondern auch die Bewohner der anliegenden Gebäude sind bei längerem Aufenthalt einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt. Am 10. September beobachten Atomkraftgegnerinnen und –gegner, wie einer dieser Transporte auf der Strecke der S1 von Freising kommend bei Feldmo-
ching um 0.10 Uhr auf die nördliche Güterstrecke abbiegt. Dort kreuzt er um 0.25 Uhr die Nürn-
berger Autobahn und erreicht auf der Strecke der S3 den Rangierbahnhof Berg am Laim. Nach 1½ Stunden Aufenthalt fährt der Atommülltransport angehängt an einen neuen Güterzug über den Ostbahnhof – Kolumbusplatz (2.15 Uhr) – Laim – Pasing auf der Strecke der S3 Richtung Augs-
burg. Am Montag, 16. September, protestieren die Mütter gegen Atomkraft auf dem Bahnhofsplatz in Pasing, am Ostbahnhof und am Olchinger Bahnhof: „Die Geheimhaltung der Fahrtzeiten und –routen durch das Bayerische Innenministerium wird stets mit dem ‚Schutz vor Dritten’, das heißt vor einem Anschlag, begründet. Wie die Recherchen der Atomkraftgegner beweisen, sind diese Transporte aber nicht geheimzuhalten! Offensichtlich soll diese ‚Informationspolitik’ verhindern, dass eine informierte Öffentlichkeit Protest gegen die Transporte vor der eigenen Haustür erhebt. Schließlich sind die Atomtransporte ein wichtiger Teil der Entsorgungslüge von seiten der Atomlobby. Da es eine gesicherte Entsorgung bislang nicht gibt, wird die strahlende Last in Zwischenlager oder zur Wiederaufarbeitung verschoben. Aber nur für kurze Zeit, denn 1993 kommt der ganze radioaktive Abfall wieder zurück, um dann abermals quer durch Deutschland transportiert zu werden …“3

Am 15. September schließen sich achtzig Bürgerinnen und Bürger in Garching zu einer Bürger-
initiative gegen den geplanten Atomforschungsreaktors FRM II zusammen. Im September und Oktober sammelt die Bürgerinitiative Informationen und informiert die Öffentlichkeit. – Am 17.Oktober deckt die Bürgerinitiative einen Störfall am alten Atom-Ei (FRM I) auf: Grundwasser und Boden wurden radioaktiv verseucht. – Am 19. November fordert die Bürgerinitiative die sofortige Abschaltung des FRM I. – Ingrid Wundrak stellt eine Strafanzeige. Die Staatsanwalt-
schaft soll wegen radioaktiver Verseuchung auf dem Reaktorgelände in Garching ermitteln. Fünf Jahre später, am 26. November 1996, stellt sie das Verfahren ein. Das Bündnis gegen Atomreaktor Garching e.V. kritisiert bei einer Pressekonferenz die haarsträubende Begründung und vermutet dahinter politische Gründe.4

Ein Erfolg? Am 16. Oktober 1991 setzt das bayrische Umweltministerium überraschend das atom-
rechtliche Verfahren zum Einsatz von MOX-BE im KKW-Gundremmingen aus. Im Oktober 1992 will Umweltminister Gauweiler das Genehmigungsverfahren wieder aufnehmen.

Das Umweltinstitut München veröffentlicht „Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl in der BRD“.5

(zuletzt geändert am 20.4.2019)


1 Siehe Bilder vom „tschernobyltag“ von Cornelia Blomeyer.

2 Siehe „Zum Atomrechtssymposium vom 24. – 26. Juni 1991 in München“ von Gabriele Geier.

3 Siehe Bilder vom Protest gegen „heute nacht atomtransport“ von Cornelia Blomeyer.

4 Siehe „Ein neuer Reaktor für Garching“ von Karin Wurzbacher; siehe auch www.frm2.de.

5 Siehe www.umweltinstitut.org.