Flusslandschaft 1992

Flüchtlinge

Anfang der 90er Jahre sind es vor allem Flüchtlinge aus dem sich im Bürgerkrieg befindenden Jugoslawien. Die großen Parteien sind sich einig. Die CSU meint, nur wenige Asylsuchende seien wirklich verfolgt. Die meisten flüchteten vor wirtschaftlicher Not. Daher müssten Zuwanderer, die nicht politisch verfolgt seien, „möglichst rasch wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeführt wer-
den“.1 Die CSU will durch eine Änderung des Grundgesetzes Art. 16 Asylbewerber aus sogenannten Nichtverfolgerstaaten schon an der Grenze abweisen und den Rechtsweg gegen ablehnende Asyl-
bescheide gänzlich abschaffen. Nach dem Vorschlag der CSU soll kein politisches Asyl genießen, „wer aus einem oder über einen Staat einreist, in dem er nicht der Gefahr ausgesetzt ist, politisch verfolgt, oder in einen Staat abgeschoben zu werden, in dem ihm politische Verfolgung droht“.2 Die SPD wirft der Bonner Kohlregierung vor, sie straffe Verfahrenswege nicht, begrenze Zuwan-
derungswege nicht und vergifte mit ihrer Tatenlosigkeit das Klima.3 OB Kronawitter meint im Münchner Stadtrat: „Die drei, vier, sieben oder zehn Prozent“ tatsächlich Verfolgten müssten von den anderen Asylbewerbern getrennt werden. „Wenn das ohne Verfassungsänderung ginge, wäre das schön, wenn nicht, dann muss es selbstverständlich eine Grundgesetzänderung geben.“4

Im Februar 1992 sprechen sich nach einer Emnid-Umfrage 74 Prozent der Befragten für eine Grundgesetzänderung zur Reduzierung der Zahl der Asylsuchenden ein.

Um 9 Uhr vormittags hängt am 28. Februar in ca. zehn Meter Höhe ein Transparent vor dem Siegestor, auf dem „Deutsche Asylpolitik ist rassistisch und schürt Gewalt!“ zu lesen ist. Etwa dreißig Menschen verteilen Flugblätter an Passanten und Autofahrer. Nach ungefähr zwanzig Minuten ist die Polizei eingetroffen, beschlagnahmt die Flugblätter und nimmt Personalien auf. Um 9 Uhr 40 entfernt die Feuerwehr das Transparent.

An jedem Bild-Zeitungskasten hängt ein Werbeplakat. Am 12. März heißt es hier „Kronawitter: Jetzt kurzer Prozess mit Asyl-Betrügern“. Wer das unappetitliche Blatt nimmt und aufschlägt, liest: „Rund 500 Schwarzafrikaner lagen nicht in ihren Betten, als OB Georg Kronawitter Münchens Asylanten kürzlich um sechs Uhr früh durchzählen ließ. Wie berichtet, waren sie auf und davon, um in einer anderen Stadt erneut Sozialhilfe zu beantragen: ‚Dieser ungeheuerliche Missbrauch muss aufhören’, schäumte der OB.“ Auch andere Politiker beziehen Position. Dr. Erich Riedel (CSU), ehem. Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft: „Die Lage ist chaotisch und fast aussichtslos. Der Münchner Süden muss ab sofort zur asylantenfreien Zone erklärt werden.“5 Und: „Das Boot im Münchner Süden läuft über. Jetzt muss Schluss sein. Deshalb wiederhole ich meine Forderung, den Münchner Süden ab sofort von Scheinasylanten zu verscho-
nen.“6 Hier drängt sich die Frage auf, ob manche Mandatare sich amöbengleich wie auf Hell-Dun-
kel reaktive Organismen verhalten, die Signale und Botschaften der vereinigten Stammtische der Republik empfangen und im Reflex populistisch zurückwerfen.

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Der Stab für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) beschlagnahmt in München Gebäude und Gelän-
de, unter anderem die Theresienwiese, zur Unterbringung von Flüchtlingen. Damit wird auch den Bürgerinnen und Bürgern eindrücklich klar gemacht, dass es den Verantwortlichen schwer fällt, „der Asylantenflut Herr zu werden“.8 Um dieser Stimmungsmache zu begegnen, gründen ein Dut-
zend Bewohnerinnen und Bewohner des Westends die Westend Nachrichten. Stadtteilzeitung für das Westend und die Schwanthalerhöh’.9 Das Blatt wendet sich schnell auch anderen Problembe-
reichen im Stadtteil zu und wird mit seiner eingeschworenen Redaktionskonferenz zu einer eige-
nen Bürgerinitiative.

Am 5. Juni beschließt die Bundesregierung die Beschleunigung des Asylverfahrens. – Der Iraner Ali Ghorbanian soll abgeschoben werden. Er findet Menschen, die ihm helfen.10


„‚Ich bedanke mich‘ sagen die persischen Schriftzeichen … Jetzt hat Ali Ghorbanian einen deutschen Pass erhalten und kann bleiben! Wir freuen uns mit ihm.“11

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Schon seit Anfang der 80er Jahre werden in Bayern Asylsuchende in Sammellagern untergebracht. Diese erfolgreiche Abschreckungspolitik soll bundesweit wirksam werden. Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Asylverfahren vom 1. Juli wird die Internierung in Sammellagern auch für andere Bundesländer Vorschrift.

Fluchtursachen: Jeder vierte Mensch auf der Erde kommt mit weniger als einem Dollar pro Tag aus. In über dreißig Ländern liegt die Kindersterblichkeit bei über 20 Prozent. Oberbürgermeister Georg Kronawitter im Streitgespräch mit Jürgen Trittin, Minister für Bundesangelegenheiten in der niedersächsischen Landesregierung: „Wir schaffen es nicht, das Auffangbecken für alle Armen in der Dritten Welt zu sein. Das sind nämlich eine Milliarde Menschen und mehr … Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis 10 oder 20 Millionen bei uns sind? 100 Millionen würden gern zu uns kommen, wenn wir sie nicht legal abwehren können … Wir können nicht der Lastesel für die Armen der Welt sein.“13

„Richtig, Herr Kronawitter, der Unmut ist riesig, riesengroß; wir haben, gelinde gesagt, die Schnauze voll! München – D. Pryzwenn-Schauer“14

„Fremde Augen – Asylsuchende Jugendliche zeigen Fotografien von München“ und „Der Baum der Freiheit – kurdische Kunst im Widerstand. Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus Südkur-
distan (Irak)“, diese zwei Ausstellungen sind im September 1992 in der Seidlvilla in Schwabing zu sehen.

Das Flüchtlingslager in der Hansastraße erhält im September eine Bombendrohung.

Das Kreisverwaltungsreferat richtet im Keller einen gesonderten Warteraum für Schwarzafrikaner ein. Diese Maßnahme muss am 26. Oktober nach vielen Protesten engagierter Menschen rückgän-
gig gemacht werden.

Am 9. November findet in München eine Demonstration gegen die Asylrechtsänderung statt. Hier wird auch für die Großdemonstration am 14. November in Bonn geworben. Es demonstrieren in Bonn 200.000 Menschen. Am 6. Dezember einigen sich die Parteien CDU, CSU, FDP und SPD auf den „Asylkompromiss“ und damit auf eine Änderung des Grundgesetzes, die die Möglichkeiten massiv einschränkt, sich auf das Asylrecht zu berufen. Im Juni 1993 tritt die über den Asylkompro-
miss erzielte Asylrechtsänderung in Kraft, die das grundgesetzliche Gebot „Politisch Verfolgte ge-
nießen Asylrecht“ deutlich einschränkt: Wer über einen sicheren Drittstaat einreist, und das sind alle Länder, die an die Bundesrepublik angrenzen, kann in diesen zurückgeschickt werden. Eine Einwanderung mit Asylberechtigung ist somit nur per Flugzeug möglich, da sonst immer über einen sicheren Drittstaat eingewandert wird. Hierbei werden aber Schnellverfahren im Transitbe-
reich der Flughäfen mit eingeschränkter materieller Prüfung durchgeführt, damit die Asylbegeh-
renden erst gar nicht Einwohner werden können, sondern direkt zurück geschickt werden. Nicht zuletzt: Wenn der Herkunftsstaat als sicher definiert wird, kann in ihn abgeschoben werden.

Im Ortsteil Ried der Gemeinde Indersdorf wehren sie die Anwohner dagegen, dass hier 150 Asylsuchende in Baracken untergebracht werden.15

Siehe auch „Rechtsextremismus“.

(zuletzt geändert am 7.10.2023)


1 CSU-Ministerpräsident Max Streibl in seiner Neujahrsansprache, Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 1992.

2 Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 1992.

3 Anzeige der SPD-Bundestagsfraktion in großen Tageszeitungen

4 Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 1992.

5 die tageszeitung vom 10. April 1992.

6 Süddeutsche Zeitung vom 16. April 1992.

7 An der Litfaßsäule vor dem „Import Export“ im Kreativquartier Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße anlässlich der Trauerfeier für Claus Schreer am 4. Oktober 2023. Foto: Richy Meyer

8 Siehe „Gaddafi, Kronawitter und die Katastrophe im Container“ und „Leben in Containern“.

9 Siehe „Quod licet Nazi, non licet Sozi“.

10 Siehe „Die Ausweisung von Ali Ghorbanian verstößt gegen das Grundgesetz“, „Teilerfolg für Asylsuchende“ und „Abschiebeverbot“.

11 Mitteilungen der Humanistischen Union 143 vom September 1993, 25.

12 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

13 Der Spiegel 37 vom 7. September 1992, 27.

14 Der Spiegel 39 vom 21. September 1992, 10.

15 Siehe „Wir sind nicht anders als die andern“ von Michael Haarkötter.