Flusslandschaft 1995
Internationales
- Allgemeines
- USA
- Kanada
- Türkei und Kurdistan
- Bosnien
- Nigeria
Allgemeines
„Das Verlangen nach einer besseren Welt wird auf den imaginären Treffpunkten vieler Wider-
standsbewegungen auftauchen müssen, und davon gibt es so viele, wie es Einzäunungen und Aus-
schlüsse gibt. Der Widerstand wird so transnational sein wie das Kapital. Einzäunung gibt es in unzähligen Formen. So wird es auch mit dem Widerstand sein.“1
Zum ersten Mal findet am 22. Juni auf dem Marienplatz der „Tag der Umwelt“ zusammen mit dem „Dritte-Welt-Tag“ statt, den das Nord-Süd-Forum ausrichtet. Unter anderem stellt ein Fahrrad-
Taxi aus Uganda ein alternatives Konzept im Münchner Stadtverkehr dar, den Weg der Kaffee-
bohne bis in die Kaffeetasse erleben die Besucher durch einen Parcours selbst und vieles mehr.2
„Tränen in den Augen / verwischen mir / das Bild von Menschenrechten / und prägen / die Schreie und / Wunden / in meine Seele. — / Zorn gerät zu verhaltener Wut / und der Stuhl, auf dem ich / lesend sitze, / wird zur unruhigen / Tanzfläche. — / Die Schreie und Wunden, / Leiden von Verletzungen / sind anläßlich meiner Tatenlosigkeit / dennoch in meine Seele / eingraviert. — / Die Unruhe beginnt zu wirken / und ich werde handeln, / bald.“ Wolf-Dieter Krämer am 1. Sep-tember
… September, „Salvador da Bahia – Musik und Licht, Magie und Farbe. Arbeiten von ‚Künst-
lerinnen und Künstlern’ aus den Favelas von Salvador da Bahia“ Und: „Eine Decke für Zagreb! Patchwork- und Quiltausstellung zugunsten des Frauenhauses in Zagreb von Martha Röder“,
zwei Ausstellungen in der Seidlvilla in Schwabing …
»Die Welt, die in das dritte Jahrtausend eintritt, ist nicht von stabilen Staaten oder stabilen Ge-
sellschaften gekennzeichnet. Die Welt, oder große Teile von ihr, wird durch Gewalt verändert werden. Doch die Art dieser Veränderungen ist noch völlig unklar.«3
Siehe auch „Flüchtlinge“.
USA
Am 19. April explodiert eine Autobombe vor dem Alfred P. Murrah Federal Building, einem Sitz mehrerer Behörden der Bundesregierung, in Oklahoma City. 168 Menschen sterben, über 800 sind verletzt. „Die Nachricht aus Oklahoma City fand alle Hörer überzeugt, dass ein Kommando aus einem Staat der Dritten Welt den Anschlag verübt habe. Der Reflex war Resultat nicht nur langjäh-
riger Propaganda betr. »internationaler Terrorismus«, sondern des unbestimmten und doch nicht unberechtigten Gefühls, dass der Einrichtung der One World viele Anschläge auf World Trade Cen-
ter folgen werden. Es waren Amerikaner … Auch die Erste Welt, die Siegerin aller bisherigen Ge-
schichte, ist ihre Verliererin. Mit der globalen Konkurrenz kam ihr zugleich die Nötigung abhan-
den, die eigene Gesellschaft sozial einigermaßen erträglich zu gestalten, und so ging mit der real-
sozialistischen Epoche auch die sozialdemokratische dahin. Täglich nun erzählt zu kriegen, dass man Sieger der Weltgeschichte sei, und täglich zu erleben, dass der Sieger ein armer Arsch ist, dem die Regierung wieder eine Hilfe streicht und wieder eine Vorschrift macht, kann einen kleinen Mann aus dem großen weißen Herrenvolk schon sehr verletzen. So sehr, dass er zu den Milizionä-
ren von Michigan geht, die – lass dich überraschen! – »gegen die neue Weltordnung« kämpfen.“4
Am 8. Juni findet in München eine Protestaktion vor dem US-amerikanischen Konsulat statt. Man fordert „Freiheit für Mumia Abu-Jamal“.
Über fünfhundert Menschen demonstrieren am Freitag, 21. Juli, von der Münchner Freiheit zum US-Konsulat in der Königinstraße 5 – 7 gegen die für den 17. August vom Gouverneur Pennsyl-
vanias befohlene Hinrichtung Mumias, der sich seit dem 9. Dezember 1981 in Haft befindet.
Etwa zwanzig Leute beteiligen sich am 20. August beim „Sonntagsspaziergang für das Leben und die Freiheit von Mumia“.
„Nachdem, wie bereits berichtet, die Polizei beim dritten Sonntagsspaziergang für die Freiheit
von Mumia Abu-Jamal am 3. September von allen Spaziergängern und Spaziergängerinnen die Personalien festgestellt hat, haben die meisten von ihnen am heutigen Dienstag, den 5. September eine Vorladung zum Staatsschutzdezernat der Kriminalpolizei bekommen. Wir sehen darin einen Versuch, die Sonntagsspaziergänge, die ausdrücklich keine Demonstration oder geschlossene Versammlung darstellen, zu kriminalisieren, um sie damit verhindern zu können. Wir protestieren hiermit gegen diesen Versuch, demokratische Meinungsfreiheiten einzuschränken. Wir fordern die Presse auf, nicht die Augen zu verschließen vor weiteren Darbietungen ‚bayerischer Art’ durch die Polizei. Die Sonntagsspaziergänge werden trotzdem stattfinden! Wir rufen die Presse auf, daran teilzunehmen und über deren Verläufe zu berichten.“5
Rund 3.000 Menschen in den USA befinden sich derzeit in Todeszellen, d.h. warten auf ihre Tö-
tung durch den Staat. 12 Prozent der US-Bevölkerung sind Afro-AmerikanerInnen; ihr Anteil an den zum Tode Verurteilten beträgt 40,3 Prozent, an den tatsächlich Getöteten 71 Prozent. In 38 von 50 US-Bundesstaaten ist die Todesstrafe wieder eingeführt worden. In den letzten 14 Jahren hat sich die Zahl der Gefangenen in US-Gefängnissen verdreifacht. In 2 Jahren werden eben so-
viele Menschen eingesperrt wie an Universitäten eingeschrieben sein, wenn die bisherige Zuwachs-
rate sich fortsetzt
20.000 Dollar pro Tag bekommen die Anwälte, die den Kragen des American-Football-Spielers OJ Simpson retten. Simpson soll seine Exfrau und deren Bekannten ermordet haben. Mindestens 7.000.000 Dollar an Steuergeldern kostet der Prozess den Staat Kalifornien. Auf 45.000.000 Dol-
lar wird der Profit des Senders CNN durch die O.J.-Berichterstattung geschätzt; um 600 Prozent sind die Einschaltquoten seit Prozessbeginn gestiegen. 100.000 Dollar wird der Werbespot bei CNN kosten, der unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung am 3. Oktober gesendet wird. Für 3.395 Dollar kann mensch eine von O.J. autorisierte Bronzestatue seiner Person in Lebensgrö-
ße erwerben; 5.000.000 Dollar hat der Verkauf dieses Riesennippes bereits eingebracht.6
KANADA
Protestkampagne der Aktionsgruppe Indianer und Menschenrechte (AGIM) gegen das Staudamm-
projekt Ste. Marguerite III in Quebec und Anti-Tiefflug-Kampagne zur Unterstützung der Innu …7
TÜRKEI und KURDISTAN
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Am Sonntag, 2. Juli soll eine Gedenkfeier für das Massaker von Sivas10, bei dem fünfunddreißig Alevitinnen und Aleviten ermordet wurden, stattfinden. Daraufhin verhängt KVR-Chef Uhl ein Versammlungsverbot über die ganze Stadt von 0 bis 24 Uhr für „alle Veranstaltungen mit ähnli-
cher Thematik“. In der Nähe des Versammlungsorts befinden sich mehrere Hundertschaften des Unterstützungskommandos (USK). Auf der Schleißheimer Straße werden sämtliche Autos kon-
trolliert, „ausländisch aussehende“ Passanten zur Umkehr gezwungen. Darauf begeben sich einige Menschen in die Räume des Kurdischen Elternvereins in der Lindwurmstraße 71. Der gesamte Block wird daraufhin zum Veranstaltungsort erklärt, alle aus und eingehenden Menschen kontrol-
liert und fotografiert.
Münchner Kurdinnen und Kurden wollen am 29. Juli zu einer Demonstration außerhalb Bayerns fahren. Sie kommen nur bis zur Theresienwiese.11
Am 14. Oktober stürmt die Polizei die Räume des Kurdischen Elternvereins.12
Die Demonstration vom 9. Dezember, dem Vortag zum „Tag der Menschenrechte“, wendet sich nicht nur gegen die Verfolgung von Kurdinnen und Kurden.13
In der Bundesrepublik finden sich viele willfährige Handlanger des türkischen Terrorismus gegen Kurdinnen und Kurden: „Menschenrechtsverletzungen werden heruntergespielt und individuali-
siert: Folter wird nach wie vor als singuläre Erscheinung abgehandelt. In den Lageberichten des Auswärtigen Amtes wird wiedergegeben, dass 1994 die türkische Menschenrechtsstiftung (TIHV) 1.000 Fälle von Folter dokumentiert hat. Wohlweislich unterschlagen werden die Ausführungen der Stiftung und des Menschenrechtsvereins, dass es sich dabei nur um einen geringen Teil der tatsächlichen Fälle der systematisch praktizierten Folter handelt. In Kurdistan ist niemand mehr in der Lage, die Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen durch staatliche Sicherheitskräfte zu dokumentieren. – In den türkischen Medien und vermittelt durch die Übernahme der zensierten Meldungen türkischer Agenturen auch in der deutschen Presse wird ständig über die Anzahl getö-
teter »PKK-Terroristen« oder »tot festgenommener Terroristen« berichtet. Dass es sich dabei z.T. um Zivilisten handelt, und dass die türkische Armee gefangene und verletzte kurdischen Kombat-
tanten völkerrechtswidrig liquidiert, wird verschwiegen. – Lediglich die Extremfälle der Verfol-
gungspraxis des türkischen Staates – das Verbot der Partei der Demokratie (DEP) und die Inhaf-
tierung ihrer Abgeordneten oder die Verfolgung von Intellektuellen – werden vor allem auf der zwischenstaatlichen und internationalen Ebene thematisiert. Die Routine der Verfolgung und vor allem die Institutionen der Gewalt bleiben von dieser Kritik völlig unangetastet: Ausnahmezu-
stand, Supergouvemement, Dorfschützersystem und Zwangsrekrutierungen, Staatsicherheitsge-
richte und Kontraguerilla. Der nach dem Anti-Terrorgesetz verurteilte und inhaftierte Politologe Haluk Gerger wandte sich kürzlich an die Mitglieder von Europaparlament und Europarat und klagte sie offener Unaufrichtigkeit an. Solange die militärische und politische Unterstützung des Regimes fortdauert, sind auch die Resolutionen und Beschlüsse zur Verurteilung türkischer Men-
schenrechtsverletzungen wertlos, schreibt Gerger, dem als inhaftiertem Autor selbst diese unauf-
richtige Solidarität zuteil wird, die die Verhältnisse in der Türkei unangetastet sehen möchte. – Zeitungen und Journalistlnnen, Menschenrechtsvereine und JuristInnen in Kurdistan und der Türkei, die für die Berichterstattung über die Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates gesorgt haben und diese vor die internationalen Institutionen bringen, sind Verfolgung, Repressi-
on und Mord ausgesetzt und können ihre Arbeit nur unter absolut erschwerten Bedingungen fort-
führen. ZeugInnen und KlägerInnen, die von ihrem Individualklagerecht vor der Europäischen Menschenrechtskomission Gebrauch machen, werden von den türkischen Behörden massiv unter Druck gesetzt und gezwungen, ihre Klagen zu widerrufen …“14
BOSNIEN
In der Gegend von Srebrenica ermorden im Juli die Armee der Republika Srpska, Polizei und serbische Paramilitärs unter der Führung von Ratko Mladić mehr als 8.000 Bosniaken, Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren. Die anwesenden niederländischen Blauhelm-Soldaten schreiten dagegen nicht ein. Es ist das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In der Münchner Friedensbewegung prallen die Meinungen aufeinander: Intervention oder strikte pazifistische Haltung? Mitglieder kirchlicher Gruppen plädieren für einen begrenzten militärischen Einsatz, für Unrecht, das größeres Unrecht verhindert.
NIGERIA
10. November: Nachdem die nigerianische Regierung neun Umweltaktivisten, unter ihnen den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, hinrichten lässt, kommt es weltweit zu Protesten gegen den Ölmulti Shell, der im nigerianischen Ogoniland nach Erdöl bohrt und katastrophale Umweltschäden hin-
terlässt.
(geändert am 7.10.2023)
1 Iain A. Boal, First World, Ha Ha Ha!, City Lights, 1995, zit. in: Notes from Nowhere (Hg.), Wir sind überall – weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch, Hamburg, 2007, 33.
2 Siehe www.nordsuedforum.de.
3 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 570.
4 konkret 6 vom Juni 1995, 3.
5 Münchner Lokalberichte 19 vom 15. September 1995, 12.
6 Quelle: Süddeutsche Zeitung, The Nation
7 Siehe www.agim-online.de/
8 An der Litfaßsäule vor dem „Import Export“ im Kreativquartier Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße anlässlich der Trauerfeier für Claus Schreer am 4. Oktober 2023. Foto: Richy Meyer
9 Grafik: Bernd Bücking. Titel von: Fred Schmid/Claus Schreer, Strategische Waffenbrüderschaft Deutschland-Türkei, isw Spezial-Nr. 8, sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., 6. April 1995.
10 Siehe www.spiegel.de/politik/deutschland/15-jahre-massaker-von-sivas-die-auferstehung-der-aleviten-a-563623.html.
11 Siehe „Freistaat BY eifert Militärstaat TR nach“.
12 Siehe „Polizei bedroht Kinder“.
13 Siehe „Für das Recht auf Leben kämpfen“.
14 Forum Wissenschaft 3 vom September 1995, Marburg, 64 f.