Flusslandschaft 1998

Kunst/Kultur

Es muss doch möglich sein, Ambach am Starnberger See zum am weitesten von der Münchner City entfernten Vorort Münchens zu erklären! Denn dann sollte es als geboten erscheinen, auf Josef Bierbichlers Nachwort zur Veröffentlichung seiner Bensheimer Rede hinzuweisen, als er im März 1998 den Gertrud-Eysoldt-Ring 1997, den höchstdotierten Schauspielerpreis im deutschsprachigen Raum, verliehen von der Deutschen Akademie für Darstellende Künste, erhält und das Preisgeld von 20.000 Mark an Christoph Schlingensief weitergibt. Es ist denkbar, Bierbichlers Position zur Kunst des Theaterspiels auf alle Gattungen der Kunst anzuwenden.1

AKTIONSKUNST

„Als FLATZ plant, in der Veranstaltung ‚Jetzt erst Brecht‘ zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht (10. Februar 1998) im Marstall den Kadaver eines Schimmels häuten zu lassen, verhindert die In-
tendanz des Residenztheaters die Ausführung. Am 28. März kann FLATZ doch ‚Physical Sculpture meets Brecht‘ ohne Abstriche realisieren. – Auf einer Projektionswand zeigt ein Film die Erschie-
ßungen von drei Pferden im Münchner Schlachthof. Die von FLATZ gefilmte Dokumentation gibt den Rhythmus der kurz aufeinander folgenden Schüsse 20 Minuten lang als Loop wieder. Neben der Filmprojektion steht FLATZ auf einem Sockel mit dem Gesicht zur Wand und zeigt sein Rük-
kentattoo ‚Physical Sculpture‘. Er wiederholt in verschiedenen Lautstärken den Satz ‚This is not a horse‘, in Anspielung an René Magritte´s Gemälde «La trahison des images» (1929), in dem der Text «Ceci n´est pas une pipe» das Abbild einer Pfeife kommentiert. – Die Sopranistin Cornelia Melián erscheint auf einer Galerie zwar nackt, aber mit verbundenen Augen. Sie singt fünf Stro-
phen aus Bertolt Brechts ‚Dreigroschenoper‘ (1928): ‚Erst kommt das Fressen, dann die Moral‘. Simultan wird auf einer Bühne der Kadaver eines Schimmels von einem Schlächter in Berufsklei-
dung gehäutet. Auf einer weiteren Bühne singt FLATZ ‚Ich‘ mit dem Refrain ‚Ich bin ich – und wer bist Du?‘: Musikalisch begleitet ihn die Gruppe Treibstoff (mit Olaf Gutbrod). – Das Galerielicht wird immer wieder ausgeschaltet. Nach jeder Dunkelphase trägt die Sängerin ein weißes Klei-
dungsstück mehr und singt die nächste Strophe. Wenn das Licht auf der Galerie ausgeschaltet wird, dann wird das Licht der Bühne darunter eingeschaltet, auf der FLATZ singt und Schlachthof-
szenen projiziert werden. Dieser Wechsel des Bühnenlichts wird wiederholt, bis die Sängerin nach fünf Strophen angezogen und die Häutung vollzogen ist. Am Ende der Performance fällt die Haut des Pferdes, der Schlächter tritt ab und der Sängerin wird die Augenbinde abgenommen. Die Hälf-
te eines weiteren gehäuteten Kadavers (aus veterinären Gründen ohne Kopf und Beine) hängt jetzt vor der vorher für die Filmprojektion verwendeten Leinwand. Über diese Leinwand rinnt Blut, das in einer Schiene aufbewahrt wurde, bis deren Öffnungen entriegelt wurden. – Die Wahl eines Schimmels für den Brechtabend begründet FLATZ mit der in den Krieg ziehende ‚Mutter Courage‘ (Drama, 1941), die einen Schimmel erwähnt, der ihr einmal gehört habe, für den sie aber nicht bezahlt hat: ‚… leider ist er uns umgestanden, er hat fünfzehn Gulden gekostet, aber nicht mich, Gott sei Dank.‘ (Brecht: Mutter Courage 1967, 1352). Wie sie im Krieg zu dem Schimmel kam, gibt sie nicht an: Das Pferd gibt Brecht nicht nur hier Anlass, einer zweifelhaften Moral folgende Men-
schen vorzuführen, sondern auch in dem Gedicht ‚O Falladah, die du hangest!‘ (1919; Brecht: Falla-
dah 1967): Das Pferd berichtet, wie ihm im Sterben liegend bereits das Fleisch ‚mit Messern … von den Knochen‘ gerissen wurde.“2

BILDENDE KÜNSTE

Im Frühsommer demontiert die Stadt an der Kreuzung Elisen-/Luisenstraße den zwölf Meter ho-
hen, zehn Tonnen schweren, rostroten „Ring“ des Mailänder Bildhauers Mauro Staccioli. Er soll nach mehr als einjähriger Standzeit einem neuen Kunstwerk Platz machen. Da erhebt sich Wider-
spruch. Anwohnerinnen und Anwohner wollen das Werk behalten. Wenn schon nicht hier, so Be-
zirksausschussvorsitzender Klaus Bäumler, dann zumindest am Oskar-von-Miller-Ring. Dort feh-
len die statischen Voraussetzungen. Die Stadt beschließt schließlich, den „Ring“ wieder am alten Platz aufstellen zu lassen.

Im Herbst beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft in der Münchner Galerie am Abend unter ande-
rem die Foto-Collage „Das Heil“ von Enrico Della-Croce.

THEATER

Silvester 1998. Vereinzelt sind Böller zu hören. Hinter dem Maximilianeum geht hin und wieder eine Rakete hoch. Gestalten huschen durch die Maximilianstraße Richtung Kammerspiele, wei-
chen vor dem Haupteingang irritiert zurück. Drei maskierte Gestalten in Kutten mit spitzen schwarzen Kapuzen verteilen Flugblätter. Es sind Gugelmänner, die vor „unerträglicher Ge-
schichts(ver)fälschung“ warnen. In Flugblättern warnen sie, dass sie es nicht zulassen würden, wenn „unser König, diese einzigartige Ikone bayerischer Kultur, in die Niederungen von seichtem Operettenkitsch hinabgezerrt wird“. Solcherart eingestimmt harrt das Publikum Georg Rings-
gwandls „Ludwig II – Die volle Wahrheit“, erlebt staunend ein irrsinniges Panoptikum schönster Auftritte ihrer Majestät mitsamt mehrerer Ministerpräsidenten, Richard Wagners, Otto von Bis-
marcks, Cousine Sissis und einer Menge Volks und beschließt die zwei Stunden mit jubelndem Ap-
plaus. Die Gugelmänner sind inzwischen nach Hause zu ihren Familien gefahren.

(zuletzt geändert am 24.1.2021)


1 Vgl.: Uwe Mattheiss: „Requiem für eine untote Kunst. Neues vom Theatersterben oder Wie Christoph Schlingensief sich in Frau Bierbichler verwandelte“ In: Süddeutsche Zeitung 58 vom 11. März 1998, 17. Siehe „Nachbemerkung“ von Josef Bierbichler.

2 Thomas Dreher, Wiener Aktionismus und Aktionstheater in München, http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/dreheraktion.html#top52

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: Kunst/Kultur

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