Flusslandschaft 2008
Bürgerrechte
Die Föderalismusreform hat die Gesetzgebungskompetenz für das Demonstrationsrecht in die Hände der Länder gelegt. Jetzt will die bayrische Landesregierung ein neues Versammlungsgesetz für Bayern beschließen. Darin heißt es unter anderem: „Linksextremistische Versammlungen sind … durch aggressives Auftreten … geprägt … Während die Teilnehmer an rechtsextremistischen Versammlungen von anderen klar abgrenzbar sind, suchen Linksextremisten oft den Schutz fried-
licher Versammlungsteilnehmer.“ (Gesetzesentwurf Bayerisches Versammlungsrecht – BayRS 2180-4-I vom 18. Januar 2008) Das geplante Gesetz erlaubt das Eindringen des Staates bei Ver-
anstaltungen in geschlossenen Räumen. Polizei darf bei allen Versammlungen „Übersichtsauf-
nahmen“ erstellen, die auch ausgewertet und beliebig lange gespeichert werden dürfen. Versamm-
lungsleiter und Ordner werden zu „Hilfspolizisten“ gemacht und können von Behörden und Polizei sogar als „ungeeignet“ oder „unzuverlässig“ abgelehnt werden. Zukünftig ist ein Versammlungsver-
bot auch möglich, wenn „Rechte Dritter unzumutbar beeinträchtigt“ werden. Der neu eingeführte Begriff des „Militanzverbots“ gibt der Polizei die Handhabe, gegen Demonstrationen oder Teilneh-
mergruppen vorzugehen, wenn sie den „Eindruck von Gewaltbereitschaft“ vermitteln und „ein-
schüchternd” wirken. Durch die Einführung neuer Straftatbestände wird die Leitung von Ver-
sammlungen zum unkalkulierbaren persönlichen Risiko. Am 18. April findet schon eine Stadtteil-
demonstration dagegen im Westend statt. Am 25. April gibt es in München eine Kundgebung, bei der mehrere Anwältinnen und Anwälte mit Roben und schwarzen Kapuzenpullovern als „The Real Black Block“ demonstrierten.
„Das Bundesverfassungsgericht verbietet am 28. April die Erhebung einer Gebühr für das Anmel-
den einer Demonstration. Greenpeace hatte gegen einen Gebührenbescheid der Stadt München im Jahre 2000 geklagt. (Az.: 1 BvR 943/02)“1
Am Samstag, 31. Mai, werden bundesweite Kundgebungen und Demonstrationen gegen das neue Versammlungsgesetz veranstaltet, wobei sich Aktivisten in vierunddreißig Städten in Deutschland beteiligen. Die Münchner Demonstration mit zweitausend Menschen, vor allem Schülern, Studen-
ten und Autonomen, beginnt am Geschwister-Scholl-Platz2; eine zweite Kundgebung findet am Sonntag, 1. Juni, in München mit zweitausendfünfhundert Menschen unter dem Motto „Für Ver-
sammlungsfreiheit“ und „Black is beautyful – Militanzverbot nix da!“ statt.
„Herr Innenminister, ich gestehe es ein: Mein Gehirn ist voller ABC-Waffen! Aber ich versichere Ihnen: Meine Buchstaben töten nicht. Sie stehen nur auf gegen den Geist, den Sie wieder lebendig machen!“3
Fast fünftausend Menschen, zum großen Teil Gewerkschafter, demonstrieren am Samstag, 21. Juni, gegen das geplante neue bayrische Versammlungsgesetz in München. Aufgerufen haben die Gewerkschaften, viele gesellschaftliche Organisationen sowie politische Parteien von DKP bis FDP.4 In der „Tagesschau“ der ARD wird darüber berichtet.
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Die Demo vom 21. Juni
Wie geht es nun weiter? In der letzten Landtagssitzung vom 15. – 17. Juli wird über das Gesetz ab-
gestimmt. Während dieser Zeit werden die Münchner Streikleitungen aus Druckindustrie, Post, Telekom und Öffentlicher Dienst ihr Streikzelt als Mahnwache für die Versammlungsfreiheit bei dem Landtagspräsidenten Alois Glück in der Bannmeile des Landtags beantragen. Für den Fall der Verabschiedung wird parallel eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorbereitet. In der zweiten Jahreshälfte häufen sich die Demonstrationen gegen das neue Versammlungsrecht des Freistaats. Im Februar 2009 kippt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe schließlich wesentliche Teile des Gesetzes mit der klaren Botschaft: Das Versammlungs-
recht muss bürgerfreundlich, nicht behördenfreundlich sein. Vor allem das uneingeschränkte Fo-
tografieren, Filmen und anschließende Speichern des Bildmaterials durch die Polizei ist verfas-
sungswidrig.
Am Sonntag, 27. Juli, hat Michael Backmund mit Rechtsanwältin Angelika Lex die Klage der Deut-
schen Journalistenunion (dju) gegen den Freistaat in Sachen Versammlungsrecht in geschlossenen Räumen in allen Punkten vor dem bayrischen Verwaltungsgericht gewonnen.6
Parallel zu diesen Aktionen wenden sich Demonstranten direkt an Polizisten und versuchen mit ihnen einen Dialog aufzunehmen.7
Am Samstag, 20. September, findet die Demonstration „Freiheit weiß-blau – Stoppt den Überwa-
chungswahn“ statt. Der „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“ hat das Aktionsbündnis koordi-
niert.8
Eine bundesweite Erhebung gegen Ende des Jahres macht deutlich, dass alle Parteien, die im re-
präsentativen System politische Verantwortung tragen, unter Auszehrung leiden. Kritiker meinen, wenn Parteimitglieder an der Gesamtbevölkerung nur noch einen Anteil von 1,75 Prozent ausma-
chen, sollte über ein neues Demokratiemodell nachgedacht werden. Die Zahlen: 528.972 CDU-Mitglieder, 520.969 SPD-Mitglieder, 162.533 CSU-Mitglieder, 76.031 Mitglieder der Linken, 65.600 FDP-Mitglieder, 45.192 Mitglieder der Grünen. Summe: 1.399.297.8
1 Bürgerrechte & Polizei. Cilip 90 Nr. 2/2008, 88 f.
2 Siehe die Bilder der Demonstration „gegen das neue versammlungsgesetz“ von Andrea Naica-Loebell und Franz Gans.
3 Manfred Ach, Für die Katz. Ketzereien vom Mönch, München und Wien 2008, 3863.
4 Siehe „Für die Versammlungsfreiheit – Wehrt Euch!“ von Corinna Poll.
5 Foto: Franz Gans
6 Siehe „Ein Sieg für die Versammlungsfreiheit!“ von Michael Backmund.
7 Siehe „Dies ist ein Flugblatt von uns für Euch“.
8 Siehe „Stoppt den Überwachungswahn“.
8 Siehe www.welt.de/politik/deutschland/article4111871/Das-Nachwuchsproblem-deutscher-Parteien.html.