Flusslandschaft 2008

Gedenken

Die Landeshauptstadt München feiert ihr 850-jähriges Geburtstagsfest. Manche Menschen, unter ihnen auch Richy Meyer, wollen in diesem Kontext eine kritische Geschichte der Stadt präsentie-
ren. Diesem Ansinnen stimmen politische Verantwortliche begeistert zu. Als es dann ernst wird, erfahren die „Kritiker“ nur bedauerndes Achselzucken: Leider ist kein Geld mehr da. – Anfang März soll im Volkstheater eine CD mit Otto Zierers „München – eine Stadt und ihre Geschichte aus 850 Jahren“ präsentiert werden, die Andreas Giebel und die Monaco Bagage bespielt haben. Die Süddeutsche Zeitung vom 8. März berichtet jetzt, dass Zierer während der NS-Zeit für Goebbels’ „Angriff“ schrieb und ein begeisterter Nazi war. Giebel, die Musiker und auch Intendant Stückl sehen daraufhin von einem Auftritt ab. – Wolfgang Flatz gibt zum 850. Münchner Stadtgeburtstag am Sonntag, 20. Juli, auf dem Wittelsbacher Platz sein Ständchen „Heitschi Bum Beitschi“ zum Besten.

Vor fünfundsiebzig Jahren, am 24. März 1933, stimmte eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Reichsta-
ges in der Berliner Krolloper für das Ermächtigungsgesetz, das den Nationalsozialisten den Weg in die Diktatur öffnete. Sozialdemokraten verweisen heute stolz darauf, dass ihre Partei die einzige gewesen sei, die dagegen stimmte. Besonders stolz sind sie auf den SPD-Vorsitzenden Otto Wels. Ein Kenner der Geschichte rückt zurecht: „Die SPD war in der Tat – wie Robert Probst berichtet – die einzige Partei, die vor 75 Jahren gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, aber Otto Wels zum Heros des demokratischen Widerstands zu stilisieren, geht an den Realitäten vorbei. Und Hans-Jochen Vogel täte gut daran, einmal das Protokoll der Reichstagsdebatte zu lesen, bevor er sich mit Forderungen wie ‘Die entscheidenden Sätze von Wels’ Rede gehören in alle Geschichts-
bücher’ in die Nesseln setzt. – Zumindest sollte aus Wels’ Rede im Reichstag der Zusammenhang der vielzitierten Passagen ‘Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos’ und ‘Freiheit und Leben kann man uns nehmen’ mitgeliefert werden. Mit ‘wir’ sind nämlich keineswegs die (Sozial-)Demo-
kraten im Jahr 1933 gemeint, wie man hier nur allzu gern heraushören möchte, sondern Deutsch-
land, die Nation nach dem Ersten Weltkrieg. Wels zitierte den ersten Satz, der am 23. Juli 1919 (!) in der Nationalversammlung gefallen war, um die NSDAP-Vorwürfe zu entkräften, die SPD sei nicht national genug eingestellt. Zu Beginn seiner Antwort auf die Rede Adolf Hitlers stellte Wels fest: ‘Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten umso nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben.’ Wels machte ziemlich weinerlich die Verdienste der SPD beim Wiederaufbau Deutschlands geltend, zum Ermächtigungsgesetz direkt sagte er nur: ‘Kein Ermäch-
tigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.’ Er endete mit dem Appell: ‘Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.’ Das Protokoll vermerkt darauf ‘Lachen bei den Nationalsozialisten.’ Nein, auch Wels’ Rede kann die Ehre der deutschen Demokraten nicht retten. – Dr. Bernhard Abend, München“1

Sonntag, 4. Mai – 63. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. Zu diesem Anlass findet wie jedes Jahr die Gedenkfeier des Internationalen Dachau-Komitees auf dem Appellplatz des ehemaligen KZ Dachau statt. Im Anschluss ist um 12.30 Uhr in Hebertshausen die Gedenk-
stunde für die über 4.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die von 1941 bis 1944 von SS-Komman-
dos erschossen wurden.

Samstag, 10. Mai: München liest — aus verbrannten Büchern — Vor 75 Jahren, wenige Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, beteiligten sich 50.000 MünchnerInnen an der Bücherverbrennung auf dem Königsplatz. Verbrannt wurden Bücher von Brecht, Feuchtwanger, Kästner, Tucholsky und vielen anderen. Veranst: Wolfram Kastner, Kulturreferat und andere.

Das Geheimnis der Erinnerung ist die Nähe – Die „Initiative Stolpersteine für München e.V.“ lädt zur Präsentation eines „Stolpersteins“ ein. Am Mittwoch, 16. Juli, um 18 Uhr in der Schwabinger Werkstatt-Galerie Trebbin, Zentnerstraße 3. Der von dem Kölner Künstler Gunter Demnig ge-
fertigte „Stolperstein“ trägt den Namen von Selma Sonder. Frau Sonder wohnte seit 1919 in der Zentnerstraße 21. Sie wurde im Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort drei Monate später ermordet.

Am Donnerstag, 7. August, findet der „Hiroshimatag“ des Münchner Friedensbündnisses auf dem Marienplatz zum 63. Jahrestag statt.

Am 28. September entscheidet der Stadtrat über ein Denkmal für Georg Elser. Hella Schlumberger und ihre MitstreiterInnen werben für ein Bildwerk von Alfred Hrdlicka. Vergeblich.2

Am Samstag, 15. November, wollen Fritz Letsch, als Priester gewandet, und Wolfram Kastner, totenbleich geschminkt und kampfanzugmässig camouflagiert, das Volkstrauertagspektakel beim Kriegerdenkmal im Hofgarten in der Maxvorstadt besuchen. Wie jedes Jahr versammeln sich hier Bundeswehreinheiten, Kriegerverbände und schlagende Verbindungen. Die Polizei hindert Letsch und Kastner am Zutritt zur Feier mit dem Vorwand, sie würden „Unmut erregen“ und verhängt „Betretungsverbote“ und „Platzverweisungen“ wegen einer „Anscheinsgefahr“. Kastner zeigt die Exekutive an. Im April des folgenden Jahres stellt das Gericht fest, dass die beim Volkstrauertag versammelten Kameraden „eine andere Meinung aushalten müssen.“ Die Polizei hätte Letsch und Kastner den Zugang zumindest bis zur Hecke ermöglichen müssen.

Siehe auch „Kunst/Kultur“.


1 Süddeutsche Zeitung vom 28. Mai 2008.

2 Siehe „28.9.08 Wahltag“ und „Der Münchner Stadtrat hat historische Chance vergeigt“ von Hella Schlumberger.