Flusslandschaft 1964

Alternative Szene

In den fünfziger Jahren tauchten in San Francisco die ersten Beatniks auf, Künstler und Stu-
denten, die sich die „erschöpfte Generation Amerikas“ nannten. Schon in ihrem verwahrlosten Äußeren zeigten sie ihren Abscheu gegen die bourgeoise Mittelmäßigkeit, Fortschrittsgläubigkeit und Selbstzufriedenheit. Dieses Kollektiv der Verweigerer und Ausgestoßenen findet sich zeit-
versetzt auch in Zentraleuropa. Erste Gammler sind im Sommer 1964 am Monopteros zu sehen.

Das erstes Konzil der Gruppenvertreter der Subversiven Aktion nennt sich „Konklusionen“ und findet im April in Bad Wiessee mit Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann, Marion Steffel-Stergar (alle München), Rodolphe Gasché, Herbert Nagel (Soziologie-Student, Beschäftigung mit Sozial-
utopien), Peter Pusch (Berlin) und Christofer Baldeney (Erlangen) statt. – Das grellfarbige Plakat „Suchanzeige“ wird im Mai in München, Stuttgart, Tübingen und Berlin in Universitätsnähe zur Werbung neuer Mitarbeiter geklebt und verteilt, unterschrieben mit „verantwortlich: Theodor W. Adorno …“. Adorno erstattet Anzeige, Kunzelmann und Böckelmann werden wegen Verstoßes gegen das Pressegesetz verurteilt.1

Die massenmedial alles überdeckende Kulturindustrie passt sich dem Takt des Fortschritts an und taktet jeden, sodass er in unerfüllter Gier nach Befriedigung ununterbrochen dem Glücksverspre-
chen hinterhersaust. Dem, der glaubt zu spielen, wird dabei übel mitgespielt. Diese hier eher banal getextete Kernaussage der Frankfurter Schule dient als Vorlage für Veröffentlichungen der Sub-
versiven Aktion
. Seit Frühjahr 1963 engagiert sich Böckelmann, nebenbei Chefredakteur der Münchner literarischen Studentenzeitschrift Texturen, in der Subversiven Aktion.2

Im August erscheint die erste Nummer der Zeitschrift „Anschlag“ der Subversiven Aktion, in
der sich zwei Strömungen zusammenfinden: die „Berliner Schule“ um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, die von einer kritisch-marxistischen Position aus argumentieren, und die utopisch-aktionistische Münchner Sektion um Kunzelmann. Die Münchner kritisieren den „Schematismus einer rein ökonomischen Analyse, die dazu verleitet, unter Ausklammerung verselbständigter sozio-psychischer Faktoren aus sog. Antagonismen Praxisanleitungen abzuleiten.“ Die orthodox-marxistische Analyse stehe im „inneren Einverständnis … mit herrschenden Denk- und Lei-
stungsnormen.“3

Nach dem Hamburger Konzil (26. – 30. September) finden Kontakte mit örtlichen SDS-Gruppen statt, vor allem in Berlin und München. Deren Ziel ist, aktionistische Fraktionen zu bilden und langfristig die politische Richtung und die Kampfformen des Sozialistischen Deutschen Studen-
tenbundes
(SDS) zu verändern. Zunächst kommt es zur Übernahme von Referaten. In München (Kunzelmann) Zusammenarbeit mit der rätesozialistischen Gruppierung Gesellschaft für wissen-
schaftlichen Sozialismus
(„Bundessekretäre“: Rudolf Gramke und Hans-Werner Sass), die die Zeitschrift Schwarz auf Weiß herausgibt, Schulungskurse veranstaltet und in einigen Münchner Betrieben agitiert. (Betriebsarbeit ist vordringlich.)

Mitte Dezember werden Böckelmann und Kunzelmann nach einer Kampfabstimmung mit knapper Mehrheit in den Münchner SDS aufgenommen. Kurz darauf werden sie ausgeschlossen und schon bald danach wieder aufgenommen. Im Frühjahr 1965 werden nach der Grundsatzentscheidung, nur Studenten aufzunehmen, Kunzelmann, Steffel-Stergar, Birgit Daiber, Sass u.a. endgültig ausgeschlossen. — Die Subversive Aktion demonstriert im Dezember gegen den Besuch des Diktators Tschombé. Siehe „Internationales“. Kurz dannach verteilt die Subversive Aktion ein in Berlin gedrucktes konsumkritisches Flugblatt, das offenbar nur in München auftaucht.4 Siehe auch „Gewerkschaften/Arbeitswelt“.

1964 macht die Free Speech Movement Berkeley zum linksrevolutionären Zentrum der USA. Die Aktionen der US-Amerikaner faszinieren vor allem Jugendliche in der ganzen Welt.


1 Siehe „Suchanzeige“.

2 Siehe „Im Rhythmus unserer Zeit“ von Frank Böckelmann.

3 Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation und ihr Scheitern, Frankfurt am Main 1976, 155.

4 Siehe „Weihnachtsevangelium“.