Materialien 1998

Grundwerte eines Ehrenbürgers

Erich Kiesl, Ehrenvorsitzender der Münchner CSU und Ex-Oberbürgermeister steht wegen ille-
galer Immobiliengeschäfte vor Gericht.

Wenn am frühen Sonntagmorgen Zivilpolizisten und Gerichtsvollzieher mit einem Haftbefehl in der Hand vor der Haustür stehen, dann kann man schon mal ausfällig werden. Wer will von sich behaupten, dass ihm dann nicht vielleicht ein leises „Arschlöcher“ oder ein lautes „Scheißkerle“ entfleucht. Auch ein erbostes „Ihr Nazis“ mag dem einen oder anderen über die Lippen kommen. Peinlich nur, wenn man altgedienter, hochhonorierter Funktionsträger des Staates ist und noch dazu Ehrenvorsitzender einer Partei, die sich besonders gern für den „Ehrenschutz“ von Soldaten und Polizisten stark macht.

Erich Kiesl, einstiger Münchner Oberbürgermeister und bayerischer Landtagsabgeordneter, hatte zwar allen Grund sauer zu sein, als ihn am 18. Januar vier Beamte der Justiz- und Exekutivbehör-
den der Landeshauptstadt vom Frühstückstisch seiner Villa im Münchner Stadtteil Bogenhausen-Denning holten. Als Altbürgermeister, trickreicher Jurist und als Inhaber eines CSU-Parteibuches durfte er sich doch bislang vor staatlichen Zugriffen weitgehend sicher fühlen.

Weil Kiesl den Forderungen von Gläubigern aus einem Grundstücksgeschäft nicht nachgekom-
men war, hatte sich die Staatsanwaltschaft München I wochenlang darum bemüht, vom einstigen Rathauschef eine Eidesstattliche Erklärung einzuholen, die einem Offenbarungseid entsprochen hätte. Doch der praktizierende Rechtsanwalt war immer dann, wenn die Beamten vor der Tür standen, zufälligerweise nicht zu Hause. Also legten die Ordnungshüter eine Sonntagsschicht ein: Zwei Gerichtsvollzieher, die sich im Wissen um das Temperament des gebürtigen Niederbayerns zwei Zivilpolizisten zur Verstärkung mitgebracht hatten, überraschten Kiesl, um ihn ins Gefängnis Stadelheim zu bringen und am nächsten Tag endlich dem Amtsrichter vorzuführen. Das ehemalige Stadtoberhaupt wurde prompt nicht nur ausfällig, sondern auch handgreiflich. „Ich stech’ euch ab“, soll er gebrüllt haben und in der heimischen Küche nach einem passenden Messer gesucht haben. Als er in der Hektik keines finden konnte, schnappte er sich eine Flasche, um damit die braven Beamten zu attackieren. Nur dem beherzten Eingreifen von Ehefrau Edigna war es zu verdanken, dass gegen Kiesl nun nicht wegen Körperverletzung, sondern nur wegen Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt wird. Der sofortigen Inhaftierung entging Kiesl, dessen Wahlspruch als Bürgermeister stets „I mog d’Leid und d’Leid meng mi“ gelautet hatte, mit einem alten Trick: Er bekam prompt Herzbeschwerden und ließ sich vom herbeige-
rufenen Notarzt ins Krankenhaus einweisen.

Auf seine angeschlagene Gesundheit beruft sich Kiesl gerne. Ein anderes gegen ihn laufendes Verfahren hat er so über Jahre hinausgezögert, am vergangenen Dienstag wurde es vier Jahre nach der Anklageerhebung schließlich doch eröffnet. Vorerst bis zum 18. Februar wird die 4. Strafkam-
mer des Landgerichts München I gegen den Altbürgermeister wegen Untreue, uneidlicher Falsch-
aussage und Steuerhinterziehung in Höhe von fast 500.000 Mark verhandeln. Vier Stunden sind maximal pro Verhandlungstag vorgesehen – mehr ist Kiesl laut ärztlichem Attest nicht zuzumuten. Der Vorsitzende Richter Hans Karl Schmid bezweifelte jedoch schon vor Verfahrensbeginn, dass die vorgesehenen zehn Sitzungstage ausreichen werden, um Licht in die dunklen Machenschaften des Ehrenvorsitzenden der Münchner CSU zu bringen.

Auch dabei geht es um dubiose Grundstücksgeschäfte: Im Zusammenhang mit einem Millionen-
schwindel auf Kosten der Berliner Treuhandanstalt – [Inhalt wurde zensiert am 21.4.2008] – soll Kiesl 250.000 Mark Provision erhalten haben, die er am Fiskus vorbei schleuste. In dem 1993 eingeleiteten Gerichtsverfahren gegen … verschwieg der Ex-OB das Geld einfach.

Zweiter Verhandlungspunkt ist ebenfalls eine kriminelle Grundstückstransaktion, [Inhalt des Nebensatzes zensiert am 21.4.2008]. Die beiden Anwaltskollegen erwarben gemeinsam mit Kiesls Bruder Walter, einem Kaufmann aus dem Rheinland und dem Rechtsanwalt Franz-Xaver S. aus Oberfranken die Braunschweiger Rüstungsfabrik TLS, in der Panzertanks und wehrtechnisches Material hergestellt wurden. Den Zweck des Kaufs erläuterte Franz-Xaver S. am vergangenen Mittwoch vor der 4. Strafkammer: „Den Betrieb zunächst ein bisschen hochbringen und dann verkaufen.“ Vorher sollte die Fabrik ausgegliedert und das 28.600 Quadratmeter große Grund-
stück unabhängig davon verkauft werden.

Nachdem … wegen des Treuhand-Schwindels in Untersuchungshaft gekommen war, übernahm Erich Kiesl den Großteil von … Anteil und hielt schließlich mit 57,5 Prozent die Mehrheit der Geschäftsanteile. Um den Gläubigern der kurz vor dem Konkurs stehenden TLS den Zugriff auf
das Grundstück zu verwehren – der Wert des Areals belief sich auf immerhin 11,4 Millionen Mark – hob Kiesl kurzerhand eine neue Firma aus der Taufe: Die neugegründete Firma mit dem sinn-
fälligen Namen Pro Terra kaufte das Grundstück der TLS für den Spottpreis von 2,9 Millionen Mark ab. Nebenbei machte Kiesl die überhöhten Verluste der TLS steuerlich geltend: So sind in seiner Steuererklärung von 1990 zwar Einnahmen von immerhin 2,5 Millionen Mark aufgeführt. Dank der angeblichen Verluste der TLS blieb am Ende jedoch ein Minus von 180.000 Mark übrig. Hätte Kiesl wahrheitsgemäße Angaben gemacht, hätte er 471.306 Mark Steuern zahlen müssen, rechnet die Staatsanwaltschaft nun vor.

Schon zu Kiesls prunkvoller Oberbürgermeisterzeit soll ihn der damalige CSU-Chef Franz-Josef Strauß ermahnt haben, doch lieber aus den „Sekt- und Kaviar-Etagen in die Bier- und Leberkäs-
regionen“ zurück zu wechseln. Doch der einstige Strauß-Zögling hatte anderes im Sinn: Im dritten Jahr seiner Amtszeit verkaufte er 60.000 Quadratmeter stadteigenes Bauerwartungsland weit unter Wert an den Münchner Unternehmer Josef Schörghuber. Der dabei entstandene Verlust für die Stadt belief sich auf 20 Millionen Mark. Das „Baulandgeschenk“ kostete Kiesl schließlich sein Amt. Jetzt droht ihm, der in seiner Zeit als Staatssekretär im bayerischen Innenministerium wegen seiner Vorliebe für Hubschrauber als standesgemäßes Transportmittel den Spitznamen „Propeller-Erich“ verpaßt bekam, der Absturz in die Gefängniszelle. Und Münchner SPD will ihm obendrein den Ehrentitel „Altoberbürgermeister“ aberkennen lassen.

Sollte Kiesl vor dem Münchner Landgericht der Untreue, Falschaussage und Steuerhinterziehung schuldig gesprochen werden, schließt sich der schwarze Kreis der Münchner CSU: Kiesl kann dann die Fußketten seines Amtsnachfolgers als Münchner CSU-Vorsitzenden, Gerhard Bletschacher, anlegen. Der sitzt nämlich derzeit eine Gefängnisstrafe wegen Steuerhinterziehung ab. Vom Konto des gemeinnützigen Vereins „Stille Hilfe Südtirol“ hatte Bletschacher mehrere Millionen Mark am Fiskus vorbei in die Kasse seiner maroden Käseschachtelfabrik geleitet. Für die Münchner CSU sollte man in Stadelheim halt immer eine Zelle frei halten.

Thies Marsen


Jungle World 5 vom 29. Januar 1998, www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_98/05/09a.htm.

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: CSU

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