Flusslandschaft 1965

Gewerkschaften/Arbeitswelt

„Dein Artikel, liebe Metall, hat meine volle Anerkennung. Nur frage mal in Bayern in der Indu-
strie nach, ob der Durchschnitts-Nettoverdienst um 720,- DM oder nicht doch noch beträchtlich darunter liegt. Ich bin Facharbeiter in der Autoindustrie mit brutto 4,10 DM Stundenlohn, und
ich bin nicht der einzige. R. Hrastnig, München“1

Wie jedes Jahr wird auch dieses Jahr der Erste Mai gefeiert. Das Motto lautet „… wichtiger ist der Mensch – DGB“. Auftreten und Abläufe folgen ritualisierten Formen. Proteste werden, lediglich leicht modifiziert, immer wieder mit den gleichen Argumenten vorgetragen. Das Publikum er-
wartet nichts anderes.2 Oder doch? Rätesozialisten verteilen ein Flugblatt an die Maifeiernden und werden dafür verprügelt.3 Bei der Demonstration gehen Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) wie Thomas Schmitz-Bender und Rudolf Führer vor einem Block Oppo-
sitioneller, auf deren Transparent zu lesen ist „Schaut euren Führern nicht aufs Maul – schaut ihnen auf die Hände. A. Bebel“.

Unternehmerverbände und konservative Parteien „argumentieren“ gegen die Gewerkschaftsbewe-
gung, diese sei um keinen Deut besser als die von ihr angegriffenen Kapitalisten. Am 16. November hält der Leiter der Abteilung Wirtschaft im DGB-Landesbezirk, Gerhard Specht, dagegen.4

Heinz Huber erinnert sich: „Wir Kriegsgegner protestierten vor allem gegen den Krieg der USA in Vietnam. Ich ging zum Vorsitzenden des Münchner DGB-Kreises und schlug ihm vor, im Gewerk-
schaftshaus
in der Schwanthalerstraße 64 eine Antikriegsausstellung zu gestalten. Der Koch Wigg war einverstanden, hatte aber die Rechnung ohne den geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand in Düsseldorf gemacht. Die DGB-Führung verbot die Ausstellung. Da meinte Koch zu mir, die Ausstellung machen wir auf jeden Fall, aber außerhalb des Hauses.“5 Anfang Dezember eröffnet der DGB-Kreis München, GASt, IdK und SHB im kleinen Saal der Kongresshalle im Ausstellungs-
park die Ausstellung, die sich kritisch mit der amerikanischen Politik in Vietnam befasst.

„Die Gewerkschaften spielten bei den politischen Protesten von Migrant/innen von Anfang an eine wichtige Rolle. Die ‚Ausländerpolizeiverordnung’ und ab 1965 das ‚neue Ausländergesetz’ schränk-
ten die Möglichkeiten der Migrant/innen für politische Aktivitäten massiv ein. Für den Fall, dass Behörden durch die politische Tätigkeit ‚die Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträch-
tigt’ (§ 2 Ausl. Gesetz), also auch außenwirtschaftliche oder außenpolitische Interessen gefährdet sahen, drohte den betroffenen Migrant/innen die Ausweisung. Hier boten die Gewerkschaften eine wichtige Schutzfunktion. Besonders die spanischen und griechischen Arbeiter/innen fanden dort früh Verbündete in ihrem Kampf gegen die Regime in ihren Herkunftsländern. Dabei konnten sie nicht nur auf ein internationalistisches Selbstverständnis der Gewerkschaften vertrauen, sondern trafen immer wieder auch auf Funktionäre, die selbst die Zeit des deutschen Faschismus im Exil überlebt hatten oder sogar im Spanischen Bürgerkrieg 1936 – 1939 auf der Seite der internationa-
len Brigaden gegen den spanischen Faschismus gekämpft hatten.“6

Gewerkschaften führen sich auf, fordern maßlos, streiken. „Wenn nicht bald so etwas wie eine Gesamtvernunft zum Durchbruch kommt … werden die Stimmen lauter werden, die nach straffer staatlicher Reglementierung unseres Wirtschafts- und Sozialbetriebes und -gefüges rufen.“7


1 Metall 5 vom 9. März 1965, 12.

2 Siehe „Ein prächtiger erster Mai“. Fotos von Rudolf Pröhl befinden sich in der Fotosammlung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung.

3 Siehe „Kämpfen – aber wie?“ von Leonhard Rink, Jenny Hecht und Walter Karg.

4 Siehe „‚Großkapitalist’ DGB“.

5 Heinz Huber in der Sendung „Nie wieder Barras, nie wieder Krieg“ des Friedensforums in Radio Lora am 7. September 1989.

6 Simon Goeke: „‚Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand’ – Von protestierenden Gästen und multinationalen Revolutionär/innen“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 119.

7 Münchner Merkur vom 25. November 1965.