Flusslandschaft 1968

Bürgerrechte

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Hans Magnus Enzensberger: »Die Tatsachen zeigen, dass das politische System der Bundesrepu-
blik nicht mehr reparabel ist. Man muss ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues Sy-
stem ersetzen. Eine dritte Möglichkeit ist nicht abzusehen.«2

14. Februar: Zu einem Teach-in im Lichthof der Universität über die zunehmende Brutalität der Polizei und Justiz wird auch Innenminister Dr. Bruno Merk eingeladen und ein Go-in bei seinem Fernbleiben angekündigt.3 – Am selben Tag kommt es noch zu einer Kundgebung vor dem Ge-
fängnis Stadelheim wegen der Inhaftierung eines Demonstranten.4


Die Humanistische Union beteiligt sich intensiv an Diskussionen um Bürgerrechte, bezieht Posi-
tion und schreitet ein. Ihre zentrale Rolle sieht sie in einer „nachgeholten bürgerlichen Aufklä-
rung“, da diese infolge einer verpassten bürgerlichen Revolution nicht zustande gekommen sei.5

Anfang Mai verteilt die Humanistische Studenten-Union (HSU) Flugblätter mit der Überschrift „Polizeibeamte, wollt Ihr die Prügelknaben sein?“ und fordert damit die Verantwortlichen zu maßvoller Zurückhaltung auf. Oberbürgermeister Vogel lobt am 11. Juli die Polizei für ihren Um-
gang mit Demonstranten.6

Rolf Pohle und Reinhard Wetter bewerben sich am 18. Juli unter dem Motto „Macht Münchens blaue Polizisten rot“ bei der Münchner Stadtpolizei.

Artikel 10 des Grundgesetzes formuliert unmissverständlich: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden.« Tatsächlich bleibt die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen ein Überwa-
chungsstaat. 13. August: »… Mit dem sog. G 10-Gesetz zur Beschränkung des Post- und Fernmel-
degeheimnisses zu nachrichtendienstlichen Zwecken wurden jetzt die westdeutschen Geheimdien-
ste mit der Durchführung dieser Maßnahmen beauftragt, auch für die Alliierten. Diese verzichteten zwar auf ihren Überwachungsvorbehalt, ohne jedoch auf die Durchführung von ihnen beauftragter oder selbst durchgeführter Überwachungsmaßnahmen nicht nur in Berlin, sondern auch in der Bundesrepublik verzichten zu müssen. Im Gegenteil, die Bundesregierung war jetzt neben der Zu-
satzvereinbarung zum NATO-Truppenstatut auch durch das G 10-Gesetz und eine geheime Zusatz-
vereinbarung … weiterhin verpflichtet, die Überwachungswünsche der alliierten Nachrichtendien-
ste so weit wie möglich zu erfüllen …«7

Der Münchner Stadtrat lehnt am 4. Dezember nach hitziger Debatte den Antrag der Stadträte Jae-
ger (FDP) und Dr. Zehetmeier (CSU) ab, dass die Münchner Polizisten Namensschilder tragen sollen.

(zuletzt geändert am 24.1.2021)


1 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

2 Hans Magnus Enzensberger: Berliner Gemeinplätze, in: Kursbuch 11 vom Januar 1968, 156 f.

3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 40/1968.

4 Vgl. Münchner Merkur 39/1968.

5 Siehe „Begründung meines Austritts aus der HU“ von Lutz Wolfert, „Antwort“ von Leo Derrik und „Betr.: Verfassungs-
schutz
“ von Gerhard Szczesny.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 166/1968.

7 Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2014, 15.