Flusslandschaft 1969

Religion

In Münchner Beichtstühlen beichten Gymnasiasten und berichten in einem Frankfurter Schüler-
magazin, was die Priester ihnen so sagen. Die Empörung ist groß, das Blatt wird indiziert, einige Frauen werden nachdenklich.1

1968 ernannte der Papst Matthias Defregger, einen volkstümlichen Prediger und großen Marien-
verehrer, zum Weihbischof des Erzbistums München und Freising. Im Juni 1944 hat Defregger als Hauptmann einer Nachrichtenabteilung auf Befehl des Kommandeurs der 114. Jägerdivision im Dorf Filetto in den italienischen Abruzzen die Erschießung von 17 Dorfbewohnern im Alter zwi-
schen 17 und 57 Jahren befohlen, kurze Zeit später war der Krieg für Defreggers Einheit zu Ende; sie ergab sich den amerikanischen Truppen. Die Staatsanwaltschaft stellt ihre Ermittlungen gegen den Weihbischof im August 1969 ein. Defregger habe „nur einen Befehl weitergegeben“, so die Begründung des Oberstaatsanwalt Dietrich Rahn, eines ehemaligen Feldkriegsgerichtsrats. Im September 1970 wird das Verfahren endgültig eingestellt. – Seit 15 Jahren liest Defregger als Prie-
ster und Generalvikar jedes Jahr eine Feldmesse für die 97. Jägerdivision, der er angehörte, bevor er zur 114. kam. Die katholische Kirche in ihrer überwiegenden Mehrheit, die CSU und das gesamte rechte Lager verteidigen Defregger und empfinden es als Unverschämtheit, dass der Spiegel die Sache an die Öffentlichkeit gezerrt hat.

Der Aufruhr auf den Straßen erschüttert Selbstgewissheiten. Manche Katholiken beginnen damit, über ihre Not nachzudenken. Manche gestehen sich ihre Bedürfnisse ein. Und einige wenige stei-
gen aus. Anlass für das CSU-Kampfblatt Bayernkurier vom Leder zu ziehen: „… Da wird gelogen und geheuchelt, verklausuliert und vorgeschoben, behauptet und feig getäuscht. Unlängst ein Abt, der seiner Kirche alle möglichen Dinge vorschmiss, um sein Kloster wenig später, eine Schürze umklammernd, zu verlassen. Dann ein Münchner Kolpingpräses, der unter ungerechter Kritik gar arg gelitten haben will; so sehr, dass er in ein paar Tagen heiraten wird und den hiesigen prote-
stantischen Landesbischof um einen Job bat, den er auch bekam. Oder – jüngstes Kind klerikaler Sexwelle, die als Autoritätskrise verbrämt wird – ein Benediktinerpater, der eine geschiedene Gott-
ist-tot-Protagonistin aus Köln nicht nur geehelicht hat, sondern – zwanghaft wie bei Muselmannen – zu deren Religionsgerüst konvertierte …“2


1 Siehe „Ja die Weiber“ und „Leserinnenbriefe“.

2 Bayernkurier 43/1969, 2.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Religion

Materialien

Schlagwörter