Flusslandschaft 1973
Alternative Medien
Die Münchner „Arbeitersache“ und der „Revolutionäre Kampf“ aus Frankfurt am Main (RK) star-
teten im Frühjahr 1972 eine Initiative für ein überregionales Zeitungsprojekt.1 Zum Jahresende beteiligten sich folgende Gruppen an der konzeptionellen Vorbereitung: Arbeitersache München; Frauengruppe München; Arbeiterkampf Köln; Revolutionärer Kampf Frankfurt a.M.; Lotta Con-
tinua; Griechengruppe Frankfurt a.M. und München; Projektgruppe Technologie München; Pro-
letarische Front Hamburg, Bremen, Hannover und Bochum; Marxistische Gruppe Nürnberg/Er-
langen, Arbeiterinitiative Würzburg. Am 13. und 14. Januar 1973 findet eine Konferenz der Grup-
pen statt: „Geprägt war das Treffen von Anfang an durch die Entschiedenheit und den Triumpha-
lismus im Auftreten der Genossen von der ‚Proletarischen Front’ (die im übrigen Wert darauf le-
gen, als norddeutsche und nicht bloß Hamburger Gruppe betrachtet zu werden). Sie setzten gegen die angebliche Konzeptionslosigkeit von ‚Arbeitersache’ und RK ein politisches Generalkonzept bezüglich der Zeitung. Das Treffen bestand im Grunde genommen darin, dass einige Gruppen (Griechen, Lotta Continua, RK) allmählich die politischen Kontroversen zur PF herausarbeiteten – was nicht ganz einfach war … Auch scheint ein wesentlicher Punkt zu sein, grundsätzlich eine Art Rotation unter den Delegierten und Redaktionen der lokalen Gruppen zu installieren, um von An-
fang an eine Beherrschung der Kommunikation und Außenbeziehungen der Gruppen durch einzel-
ne Genossen und deren Privatisierungstendenzen vorzubeugen …“2 Die Frauengruppe erläutert ihre Position in einem eigenen Papier: „Frauen gemeinsam sind stark! – Erklärung der Frauen-
gruppe zu ihrer Beteiligung am Projekt einer nationalen Zeitung. Besonders gerichtet an die Ge-
nossinnen der beteiligten Gruppen, die sich nicht die Probleme von Kooperation zwischen Genos-
sinnen und Genossen stellen, die wir uns gestellt haben. Besonders gewidmet den Genossen, die in den letzten Wochen aggressiv oder mit sorgenzerfurchter Stirn ein auffälliges Interesse daran ent-
wickelten: „Beteiligt sich die Frauengruppe an dem Projekt?“, die sich verpflichtet fühlten, die Be-
schlüsse der Frauengruppe stellvertretend für sie zu verkünden, die sich dazu hingerissen fühlten, bei der Ankündigung: „Sie beteiligen sich!“ zu applaudieren. – Es ist schon richtig: Warum es für uns nicht einfach eine Selbstverständlichkeit darstellt, uns an gemischten Gremien zu beteiligen, liegt daran, dass wir etwas gegen Genossen haben. Nicht persönlich, es hat schon etwas mit gesell-
schaftlichen Zusammenhängen zu tun, und nicht in der Form, dass wir sagen, wir wollen mit euch nichts mehr zu tun haben, aber in der Form, dass wir behaupten, dass eine naiv-problemlose Zu-
sammenarbeit mit Genossen a la „Wir sind alle links und wollen das selbe, wir Frauen müssen uns nur individuell ein bisschen anstrengen, um uns nicht unterbuttern zu lassen“, nicht möglich ist. Dem steht entgegen, das jahrhundertelang die Subjektivität der Frauen unterdrückt worden ist, dass jede Theorie, jede kulturelle Norm, ja die Sprache selbst von männlich geprägten Strukturen bestimmt ist, dass diese Normen nicht nur auch in der Linken herrschen, sondern dass wir Genos-
sinnen sie auch internalisiert haben … Wir möchten über diesen Standpunkt und die ihm zugrunde liegenden Erfahrungen und Einschätzungen vor allem mit den am Projekt beteiligten Genossinnen diskutieren und schlagen deswegen für den Sonntag ein Frauenplenum vor, wo wir ohne die Lei-
stungsansprüche, Diffamierungen und Ignoranz der Genossen unter uns diskutieren können.“3 Am 12. März erscheint die erste Nummer der Wir wollen alles (WWA). „Die Zeitschrift wurde anfäng-
lich auch in italienisch und griechisch herausgegeben und war in der gesamten Bundesrepublik verbreitet.“4 Im Juni 1975 erscheint unter der Nummer 27 die letzte WWA.
Am 6. Juli erscheint das erste Blatt mit dem Untertitel „14 Tage Münchner Möglichkeiten“. Das dritte „Blatt“ vom 3. August nennt sich „Alternative Stadtzeitung“, erst das sechste vom 27. Sep-
tember behält dann seinen Titel „Blatt – Stadtzeitung für München“.5 Zunächst ist die Redaktion, in der lange darüber gestritten wurde, wie die Postille denn heißen soll, in der Knöbelstraße 10 bei Gert Hortmeyer im Lehel, später in der Adelgundenstraße 18 ansässig, dann ab 1977 in der Geor-
genstraße 123 in Schwabing.6 Gerhard Seyfried zeichnet Karikaturen und Comics. Er wird zu einem der führenden Underground-Zeichner Deutschlands, der auch im Ausland häufig kopiert wird – sogar bis in die Gegenwart.7
Von 1973 bis 1974 erscheint das Rote-Hilfe-Info.8 Siehe auch „Militanz“.
1 Siehe das Grundsatzpapier „Projekt für eine national vertriebene Zeitung“ der Arbeitersache.
2 Protokoll der Zeitungsdiskussion in München (13. und 14. Januar), Material Arbeitersache, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
3 Frauen gemeinsam sind stark, Material Arbeitersache, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.
4 Siehe www.ur.dadaweb.de/dada-p/P0000596.shtml; vgl. dazu auch Geronimo. Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomem, Berlin/Amsterdam 1990, 37 f.
5 Siehe „Blatt“ 1 bis 6 auf www.issuu.com/groups/84ghz/publications; siehe auch www.ur.dadaweb.de/dada-p/P0000901.shtml.
6 Siehe „Sammelbecken für Marxisten“ von Anne Born.
7 Siehe „blatt“ und „seyfried“.
8 Siehe www.ur.dadaweb.de/dada-p/P0000063.shtml; zur Geschichte des Blatt siehe „Eins gegen alle“ von Solveig Grothe (1984) und „Juppeidi und Juppeida – Hausdurchsuchung, Razzia!“ von Günther Gerstenberg (1984).