Flusslandschaft 1977
Alternative Medien
Gegen das Blatt. Stadtzeitung für München sind zehn Verfahren anhängig. Gehen sie verloren, bedeutet das das finanzielle Aus für die alternative Publikation. – Nachdem am 19. Februar bei einer der Demonstrationen in Brockdorf zivil gekleidete, vermummte und schwer bewaffnete Männer des so genannten „Mobilen Einsatzkommandos“ der Polizei (MEK) mitmarschierten, provozierten und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen auslösten, bringt das Blatt im Schaufenster seiner Redaktion ein Plakat an, das Fotos von zwei vermummten Vertretern des MEK zeigt und mit folgendem Kommentar versieht: „Deutsche Polizisten sind die Terroristen – MEK: wenn wir nicht töten, provozieren wir.“ Am 12. April betreten sechs Herrn und eine Dame die Re-
daktionsräume mit einem Durchsuchungsbefehl und beschlagnahmen das Plakat. Sechs Men-
schen, unter ihnen zufällige Besucher, werden zur erkennungsdienstlichen Behandlung mitgenom-
men. „Wir sehen dies als eine reine Einschüchterungsmaßnahme; das Plakat hing schon ziemlich lange im Schaufenster – auch diese Aktion muss man im Zusammenhang mit der von der Bundes-
regierung angestrebten ‚Austrocknung des Sympathisantenumfeldes’ sehen. Diese neue Wort-
schöpfung ist nichts anderes als ein Legitimationsversuch für die abenteuerlichen Fahndungsme-
thoden nach Bubacks Tod.“1 Polizeibeamte überwachen Einrichtungen der Münchner Linken vom 27. April bis 2. Mai exzessiv.
Mehr als erstaunt sind manche Linke, wenn ihnen unter vier Augen von der „anderen Seite“ ver-
sichert wird, dass man sie eigentlich sehr gut verstehe, dass man genau dasselbe wolle wie sie und eigentlich auf ihrer Seite stehe. Dies geschieht öfter, als man glaubt. Beim Blatt trudelt sogar ein Brief ähnlichen Inhalts ein.2
Eines Tages erscheint ein junger Mann in der Blatt-Redaktion und meint, er sei Journalist und wolle für das Bayrische Fernsehen einen Film über das Szeneblatt verfertigen. Das gesendete Ergebnis ist ein Zerrbild. Proteste beim Intendanten bleiben unbeantwortet.3
Am 5. September wird Arbeitgeberpräsident Schleyer in Köln entführt, Schleyers Fahrer und drei Leibwächter in einem nachfolgenden Auto werden erschossen. Die Entführer fordern die Freilas-
sung von elf RAF-Mitgliedern. Die Bundesregierung entscheidet sich, nicht auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Sie bleibt auch nach der Entführung des Lufthansa-Passagierflugzeugs Landshut bei ihrer harten Haltung. Die entführte Maschine wird von GSG-9-Beamten am 18. Ok-
tober gestürmt und die Geiseln befreit. Am selben Tag begehen mehrere RAF-Gefangene Selbst-
mord und Schleyer wird durch drei Kopfschüsse ermordet. Die Ereignisse werden von behördli-
chen Nachrichtensperren begleitet. Zugleich hat der Verfassungsschutz ein großes Interesse fest-
zustellen, inwieweit alternative Medien eine Gegenöffentlichkeit herstellen.4
Deutscher Herbst: Die Blatt-Macher bekommen ein mulmiges Gefühl. Von allen Seiten hagelt es Unterstellungen.5
Ende Juli zog der Trikont-Verlag von der Josephsburgstraße 16 in die Kistlerstraße 1. Ein größeres Aufgebot von Polizisten durchsucht in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember die Basis Buchhand-
lung in der Adalbertstraße 41b, Trikont und die Wohnungen von Gisela Erler und Herbert Röttgen auf der Suche nach Exemplaren von Bommi Baumanns „Wie alles anfing“. Die Beamten finden im Verlag „dreizehn Exemplare der alten Ausgabe, acht Exemplare der von dreihundertachtzig Perso-
nen und Verlagen in Frankfurt herausgegebenen Neuauflage … sowie neun Exemplare der italieni-
schen, zwei Exemplare der holländischen, ein Exemplar der schwedischen, ein Exemplar der engli-
schen und ein Exemplar der französischen Auflage“.6 Und sie finden außerdem die Nr. 9 der links-
autonomen „Autonomie“. Bei Gisela Erler finden sie einen „Bommi“, bei Röttgen, dessen Tür auf-
gebrochen wird, da dieser nicht anwesend ist, nichts. In der Basis werden 6 Exemplare beschlag-
nahmt.
Herbert Röttgen und Gisela Erler stehen wegen Baumanns „Wie alles anfing“ vor Gericht. Am 1. Februar 1978 werden sie wegen „Billigung von Straftaten“ zu je 150 Tagessätzen à 10 DM verurteilt. Während der Urteilsbegründung stehen sie auf und verlassen den Sitzungssaal mit den Worten „Das ist keine Rechtsprechung mehr, das ist ein politischer Akt. Wir gehen“.
Siehe auch „Alternative Szene“, „Bürgerrechte“ und „Militanz“.
(aktualisiert am 23.5.2018)
1 Blatt. Stadtzeitung für München 92 vom 22. April 1977, 4.
2 Siehe „Leserbrief von einem Bullen“.
3 Vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 96 vom 10. Juni 1977, 4 ff.
4 Siehe „Kulturreferat und Staatsschutz: Auf gute Zusammenarbeit“.
5 Siehe „Senden Sie ‚Das Illustrierte Blatt’ an die Front“.
6 Blatt. Stadtzeitung für München 110 vom 16. Dezember 1977, 4. Siehe „Repression“ von Axel Rühle.
7 Cover der Auflage von 1977, Vorder- und Rückseite, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.