Flusslandschaft 1972

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Allgemeines
DGB

- Arnold & Richter
- Bavaria-Fluggesellschaft
- BMW
- Druckindustrie
- Schwabinger Krankenhaus
- Zündapp


In der Arbeitersache sind deutsche, italienische, griechische und jugoslawische Arbeiter aktiv. Die Gruppe nennt sich „multinational“, nicht wie dreißig Jahre später üblich „multikulturell“. Sie feiert am Vorabend des Ersten Mai ein großes Fest im Pschorrkeller an der Theresienhöhe 7.1 Am Ersten Mai führt die Arbeitersache eine eigene Demonstration vom Münchner Norden in die Innenstadt durch. Vor den Wohnhäusern wird skandiert: „Zu viert auf einem Zimmer/Das ist eine Qual/
Wohnheime/Sind katastrophal.“2

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Tommi Busse spielt auf einem Straßenfest der Arbeitersache in Milbertshofen.

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Bei den 68ern hieß es: „Trau keinem über 30!“ Klar, dass ihre Kontrahenten ebenso hipp auftreten. Zur Bundestagswahl am 19. November am schaltet der Münchner Arbeitskreis Soziale Marktwirt-
schaft
diese Anzeige in Zeitungen und lässt sie auch als Plakat kleben.

DGB

Das Motto des DGB zum Ersten Mai lautet: »Für eine bessere Welt — DGB.« An der Kundgebung5 nehmen etwa fünfundzwanzigtausend Menschen teil. Die Hauptforderung der Demonstranten ist die Ratifizierung der Ostverträge von 1970 durch den Bundestag. DGB-Funktionäre fordern die Polizei auf, das Haupttransparent der Arbeiter-Basisgruppen (ABG) zu beschlagnahmen. Die Poli-zei kann aber die Mauer der das Transparent Schützenden nicht durchbrechen. Die ABG führen im Anschluss an die Kundgebung eine eigene Demonstration mit großer Beteiligung durch. Um 14 Uhr versammeln sich etwa sechshundert Menschen im Hackerkeller an der Theresienhöhe 4.

Die Konjunktur zu Beginn der Sechziger Jahre war hervorragend. Auch die „Arbeitskraftreserve“ Frauen war erschöpft. Woher noch Arbeitnehmer nehmen!? „Goldene Lebensbedingungen“ versprach das Wirtschaftswunderland und warb im Ausland um Gastarbeiter. Es kamen Italiener, Spanier, Jugoslawen, Griechen und Türken. Ende der sechziger Jahre beschäftigte ein Teil der Münchner Großbetriebe zu über fünfzig Prozent ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. 1971 lebten allein in München 160.000. Während der Konjunktur wurden sie gerufen –
in der Krise sollen sie wieder gehen! Eine neue Form des Kolonialismus!

1972 sind allein im Bereich der IG Metall-Verwaltungsstelle München von neunhundertneun Betriebsräten vierundsechzig ausländische Kollegen. Münchner Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter arbeiten mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen im eigenen Werk eng zusammen und sind solidarisch mit unterdrückten Arbeiterinnen und Arbeitern in anderen Ländern. Aber sie erheben nicht nur ihre Stimme, sondern leisten auch praktische Hilfe. Kleine Beispiele für die solidarische Unterstützung der Münchner Gewerkschaften: Schon 1962 ließ die
IG Metall den Manteltarifvertrag von 1959 von Georg Jannidis übersetzen und in griechischer Sprache drucken …

Am 10. April 1962 fuhr der Münchner DGB gemeinsam mit der griechischen Kulturgemeinde nach Hausham am Schliersee. „… Teilnehmerkarten zum Preise von 12 DM wurden ausgegeben jeden Samstag von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr bei Kollegen Kaminas im Gewerkschaftshaus …“ … Anfang 1966 veranstaltete der Münchner DGB für griechische Kolleginnen und Kollegen einen 3½ Monate dauernden kostenlosen Kurs über die Geschichte der Arbeiterbewegung, Betriebsarbeit, Arbeits-
recht, Sozialrecht und Sozialpolitik in griechischer Sprache.

Am 22. Oktober 1972 kommt es zu einer Kundgebung gegen das Ausländergesetz.6

ARNOLD & RICHTER

27. November: Bei Arnold & Richter (ARRI), Türkenstraße 89 in der Maxvorstadt, streiken in dieser Woche zweihundert Lohnabhängige nach der Mittagspause eine halbe Stunde lang für
mehr Weihnachtsgeld und erreichen einen Teilerfolg.

BAVARIA-FLUGGESELLSCHAFT

In den Nachtstunden vom 12. zum 13. September findet bei der Technik der Bavaria-Fluggesell-
schaft
eine spontane Arbeitsniederlegung statt. Die Kollegen sind durch Entlassungen beunruhigt und erfahren an jenem Abend, dass für die Gekündigten englische Leiharbeiter eingesetzt werden sollen. In einem Gespräch mit der Geschäftsführung am selben Tage kann erreicht werden, dass diese Arbeitskräfte nur vorübergehend beschäftigt werden.

BMW

Italiener kommen nach einer einjährigen Ausbildung an einer Facharbeiterschule in Italien mit einem Arbeitsvertrag zu BMW, finden aber hier oft nicht den Arbeitsplatz, der ihrer Qualifikation entspricht. Ende Mai/Anfang Juni kommt es im Betrieb zu einem spontanen Streik von etwa hundert Italienern, der von der Lotta Continua und der Arbeitersache unterstützt wird. Der Streik geht verloren.7

DRUCKINDUSTRIE

Anfang des Jahres eskaliert der Streit zwischen dem Ortsvorstand der Industriegewerkschaft Druck und Papier (DruPa) und den Arbeiter-Basisgruppen (ABG), die vor allem im Pressehaus Bayerstraße, Paul-Heyse-Straße 2 – 4, gut vertreten sind. Am 17. Januar kommt es bei einer Versammlung im Gewerkschaftshaus an der Schwanthalerstraße 64 mit zweihundertfünfzig Teilnehmern zu einer Entschließung gegen die ABG. — Für die laufenden Tarifverhandlungen
heißt die kämpferische Parole auch unter dem Einfluss der AGB „Kein Prozent unter zehn Prozent“. Am 19. Februar wird die Drucktarifrunde mit einem Ergebnis von 7,5 Prozent und
einer Laufzeit von 14 Monaten (bis zum 31. März 1973) abgeschlossen; viele DruPa-Mitglieder
sind sauer.

Die Münchner ABG sind offenbar so bedrohlich, das die obersten Gremien in der DruPa reagieren. In der Nr. 4 der druck und papier der DruPa erscheint u.a. ein Artikel von Leonhard Mahlein über „Die sogenannten ‚Neuen Linken’ – Beginn einer notwendigen Auseinandersetzung“. In letzter Zeit habe man auch im Organisationsbereich der DruPa sektiererische Gruppen bemerkt, die sich Ba-
sisgruppen, Rote Zellen, Marxisten-Leninisten, Spartacisten (auch mit k), Trotzkisten, Maoisten, Proletarische Linke, Parteiinitiative usw. nennen und mit der DKP nichts gemein haben. Diese Gruppen nämlich treten für die Lehren von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Stalin und Mao Tse-tung auf. Sie sehen sich selbst als Kommunisten, könnten aber in Wirklichkeit nur als ein paar ideolo-
gische Spinner bezeichnet werden. Mahlein beschreibt die Strategie der Münchner ABG und fol-
gert: „Der Versuch zur Zersplitterung der Arbeiterbewegung ist eindeutiges faschistisches Wesens-
element und zugleich typisches Merkmal für diese Sektierergruppen. Die Inhalte ihrer Schmier-
blättchen sind voll von Widersprüchen, Unausgegorenheiten, Verdrehungen und Unterstellungen, wie sie der Mentalität von politisch unausgereiften, verworrenen ‘Intellektuellen’ entsprechen, die selbst noch nicht gearbeitet haben und die Gewerkschaften nur vom Hörensagen kennen.“8

Die DGB-Jugend demonstriert am 1. September, dem Antikriegstag. Hans Zintl, Mitglied der DruPa, versucht gemeinsam mit Mitgliedern der ABG den Demonstrationszug auf den Marienplatz zu leiten. Am 5. Oktober entscheidet der Ortsvorstand der DruPa, Zintl aus der Organisation aus-
zuschließen. Auch Oppenauer, Vertrauensmann beim Münchner Zeitungsverlag im Pressehaus Bayerstraße und seit Mai Betriebsratsmitglied, soll ausgeschlossen werden.

Im Münchner Ortsverein der DruPa findet Anfang Dezember eine Mitgliederversammlung statt, auf der über die Ausschlussanträge gegen Hans Zintl und Oppenhauer wegen ABG-Unterstützung diskutiert wird. Zintl bekennt sich zur Mitgliedschaft in den ABG. Die ABG berichten, dass die Betriebsratsvorsitzenden von Oldenbourg, Francisdruck und dem Buchgewerbehaus im Namen ihrer Betriebsräte für den Ausschluss eingetreten seien, der dann schließlich mit einhundertein-
undfünfzig Stimmen gegen siebenundsiebzig und bei siebzehn Enthaltungen vollzogen worden sei. Für den Ausschluss haben auch DKP-Mitglieder gestimmt. Da Zintl Ortskassierer ist, wird von den genannten Betriebsräten der Betriebsratsvorsitzende des Süddeutschen Verlages als neuer Kandi-
dat für diese Funktion vorgeschlagen. Die ABG hatten zuvor in Flugblättern die Beibehaltung von Zintl als Ortskassierer gefordert, ihn aber nicht vorgeschlagen und auch nicht gewählt. Die Wahl habe dann Guttenberger, der aus einem mittleren Papier-Betrieb und Pappe-Betrieb komme, gewonnen.

SCHWABINGER KRANKENHAUS

„Der beim Ortsverband München der Humanistischen Union bestehende Arbeitskreis Mitbe-
stimmung, der in richtiger Einschätzung seiner praktischen Möglichkeiten seine Arbeit auf einen konkreten Betrieb, nämlich das Schwabinger Städtische Krankenhaus, konzentriert, hat einen Erfolg errungen. Anfang des Jahres hatte der Arbeitskreis ein Flugblatt herausgegeben, in dem die angebliche Demokratisierung und Einrichtung einer demokratischen Selbstverwaltung, wie sie durch das Münchener Krankenhausreferat verkündet wurde, der Wirklichkeit im Krankenhaus gegenübergestellt wurde. Kurz darauf wurde die für das Flugblatt verantwortlich zeichnende Krankenschwester angeblich wegen unzulänglicher Dienstleistungen entlassen Vor dem Arbeits-
gericht musste jetzt die Städtische Krankenhausverwaltung die Entlassung wie die Entlassungs-
gründe zurücknehmen.“9

ZÜNDAPP

Die Betriebsgruppe Zündapp der ABG gibt im Januar die erste Nummer ihres „Zündfunken“ heraus. Bis zum Januar 1974 erscheinen 25 Nummern.10

(zuletzt geändert am 4.7.2020)


1 Siehe dazu auch „Eine qualitativ neue Sache …“.

2 Interview Hella Schlumberger mit Christine Dombrowsky im Januar 1993, zwei Kassetten im Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

3 Fotosammlung „Blatt, Basis, Trikont …“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

4 Privatsammlung

5 Fotos von Rudolf Pröhl befinden sich in der Fotosammlung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 244/1972.

7 Siehe „Arbeitersache“ von Simon Goeke, „Wir wollen alles!“ von Roman und „Bei BMW wird gestreikt“.

8 druck und papier 4 vom 21. Februar 1972.

9 Mitteilungen der Humanistische Union 56 vom April/Mai 1972, 7.

10 Siehe www.mao-projekt.de/BRD/BAY/OBB/Muenchen_IGM_Zuendapp_ABG_Zuendfunke.shtml.