Flusslandschaft 1975
Bürgerrechte
Am 14. Januar erschießt ein Polizeibeamter den 18-jährigen Ernst Wiesneth nach einer Verfolgung wegen zu hoher Geschwindigkeit durch das Autofenster. Der Schütze erhält wegen fahrlässiger Tö-
tung neun Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung.
Drei Kundgebungen verursachen am 25. Januar massive Verkehrsstauungen.1 Zwei Grundrechte stehen sich gegenüber: das Demonstrationsrecht und das „Recht auf Individualverkehr“.
Jugendliche tragen am 3. Mai das „goldene Münchner Herz“ zu Grabe.2 Sie demonstrieren damit gegen die martialisch auftretende und oft brachial durchgreifende Truppe des Carl Wiedmeier. Diese „Schwarzen Sheriffs“ des Zivilen Sicherheitsdienstes (ZSD) bewachen Luxusappartements im Olympiazentrum und gehen Streife in U-Bahnhöfen. Sie sind die Vorboten der in den folgenden Jahrzehnten sich international vermehrenden Privatarmeen.3 Dreihundert Mitglieder der Katholi-
schen Studentischen Jugend (KSJ) ziehen im Mai mit einem schwarzen Sarg durch die Innenstadt. Auch sie demonstrieren gegen die „Sheriffs“.
Die Rote Hilfe residiert in der Milchstraße 21.
Am 22. Mai bestätigt das Bundesverfassungsgericht die Praxis des Extremistenbeschlusses. Zu den Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehöre, dass der Beamte jederzeit für die freiheitliche demo-
kratische Grundordnung eintritt. Das Grundgesetz habe die Bundesrepublik als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert. Die politische Treuepflicht „fordert vom Beamten mehr als nur eine formale korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung“; sie fordert vielmehr, dass der Beamte Partei „für diesen Staat“ ergreift, ins-
besondere in Konfliktsituationen. Dazu gehört auch die eindeutige Distanzierung von Gruppen und Bestrebungen, „die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungs-
ordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren“.4 Die Überprüfung der Verfassungstreue darf sich nicht in der Aufsummierung einzelner Aktivitäten oder der Aufzählung einzelner Beurteilungsele-
mente erschöpfen. Vielmehr ist „ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers“5 und sein Verhalten erforderlich, wie es den sonstigen Beurteilungen von Dienstvorgesetzten über die Befähigung einzelner Bewerber entspricht.
Im Bundestag kommen die sogenannten Antiterror-Gesetze zur ersten Lesung. Verleger Werner Raith schreibt an seine Autoren.6
Der Ortsverband München der Humanistischen Union gründet im Herbst einen Arbeitskreis „Restaurative Tendenzen in der BRD“.
Verstaatlichung: Am 1. Oktober wird die Münchner Stadtpolizei in die bayrische Landespolizei übernommen.
Am 24. Oktober findet im Schwabinger Bräu, Leopoldstraße 82, eine Veranstaltung unter dem Motto „Der schleichende Staatsstreich“ statt. Es sprechen Rechtsanwalt Otto Schily, Schriftsteller F.C. Delius und Professor Peter Brückner. Es geht um die neuen „Verteidigergesetze“, das geplante „Maulkorbgesetz“ und um die Berufsverbote.
Am 11. Dezember spricht Sieghart Ott bei der Humanistischen Union zum Thema „Berufsverbote gegen Juristen“.
1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 21/1975.
2 Vgl. Süddeutsche Zeitung 102/1975.
3 Siehe „Uns konn nix passiern, mia san ja versichert“.
4 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 39. Band 1975 (darin 2 BvL 13/73, 334 — 391; Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Mai 1975), hier 334.
5 A.a.O., 353.
6 Siehe „Liebe Autoren und Mitarbeiter …“ von Werner Raith.