Flusslandschaft 1979

Kunst/Kultur

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„Schon seit dem letzten Sommer sammelt der Amtsbote Albert E. Kirsch- sowie Zwetschgenkerne und macht sich deshalb berechtigte Hoffnungen auf den Lehrstuhl für Kernphysik an der TU Mün-
chen (Sondervotum der Einstein-Drogerie, Einsteinstraße).“

Ob die aktuellen Auseinandersetzungen schon als „Kulturkampf“ bezeichnet werden können? Den „Progressisten“ steht eine immer massiver auftretende Front der Verteidiger konservativer Werte gegenüber.2

Münchner Kultur: „s’ gloggnschbui / abaa heid iis khoid / ahaa jez iis eifee“3

„Die Arroganz der Macht oder: Wovor hat man in München eigentlich Angst? – ln den letzten Mo-
naten bekam die Münchner Kulturpolitik eine ungewohnte Publicity. Kaum ein Feuilleton ließ die-
ses Thema aus. Und mit Grund! »Sollen die bildenden Künste in Bayern an die Kandare genom-
men werden?« fragt etwa das Badische Tagblatt vom 12. Januar 79 – und das ist noch eine recht vorsichtige Formulierung. Erschreckend gut passen nämlich die Vorkommnisse der letzten Zeit zusammen, die alle mehr oder weniger offensichtlich das Ziel haben, Ansätze einer liberaleren Kunstpolitik im Keime zu ersticken. So wurde die Diskussion über das Verhältnis der Münchner Museen zur Aktuellen Kunst zu einer Kampagne gegen Moderne Kunst und diejenigen Kunstkriti-
ker, die für sie eintreten. Die Berufung eines Kultusbeamten auf einen Lehrstuhl der Akademie der Künste auch gegen den entschiedenen Widerstand der Professoren, Mitarbeiter und Studenten be-
deutete eine empfindlichen Eingriff in die Hochschulautonomie. Ein Museumsdirektor, der in den Augen mancher seiner Kollegen zu progressive Kunst ankauft, bekommt eine Ankaufskommission zur Seite gestellt – selbstverständlich nur, um ihn bei dieser schwierigen Aufgabe zu unterstützen. Den Vorschlägen des Kulturdezernenten zur Belebung der Kunstszene wird eine mangelnde plu-
ralistische Kunstauffassung vorgeworfen – was man darunter zu verstehen hat, ahnt man inzwi-
schen. Ein weiterer Großangriff wird gegen die Pädagogische Aktion gestartet, ein schon lange un-
geliebtes Kind, dem man bei dieser Gelegenheit endlich den Schnuller in den vorlauten Mund stecken will. – Die Aufzählung läßt einen schaudern. Wer es genauer wissen will, dem sei der Pres-
sespiegel zur Lektüre empfohlen, den der Kunstverein München »Zur Situation der Bildenden Kunst in München« für die Zeit von März 1978 bis Januar 1979 zusammengestellt hat. Auf dem Sektor der Kunst wird hier eine Entwicklung sichtbar, die in anderen Städten und in anderen Be-
reichen vergleichbar ist. Nur: kaum ein Thema ist so wenig geeignet, anhand eindeutiger Kriterien gemessen zu werden und andererseits so sehr geeignet, Emotionen – auch des gesunden Volks-
empfindens! – freizusetzen, wie die Moderne Kunst. Doch wann gefährdete kritische, engagierte Kunst wirklich einmal die Mächtigen? Wovor also hat man Angst in München und anderswo? So-
lange selbst die einheitliche Stimmung in der Presse kein Nach-, geschweige denn Umdenken der Mächtigen bewirkt, solange eine präformierte »Ausgewogenheit« zum Maßstab erhoben wird, so-
lange wird die Freiheit der Kunst in Bayern ebensowenig einzufangen sein wie der sagenumwobene Wolpertinger. Katja Laske“4

BILDENDE KÜNSTE

14. Dezember: „Die Regierung von Oberbayern veröffentlicht eine Entscheidung, dass sie als Auf-
sichtsbehörde gegen den Beschluss des Kulturausschusses, das Beuys-Werk ‘Zeige deine Wunde’ zum Preis von zweihundertsiebzigtausend Mark für die Städtische Galerie im Lenbachhaus anzu-
kaufen, nicht beanstanden werde. Die Regierung weist damit eine Aufsichtsbeschwerde des Münchner CSU-Landtagsabgeordneten Richard Hundhammer ab, der der Stadt unter anderem vorgeworfen hatte, die Pflicht zur sparsamen Haushaltsführung zu verletzen. Die Regierung von Oberbayern meint, dass die Landeshauptstadt ihren freien Ermessensspielraum nicht überschrit-
ten habe.“5

LITERATUR

Die Wahl von Karl Carstens zum Bundespräsidenten ist der Anlass für den Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD , einen „Anachronistischen Zug“ unter dem Motto „Mit Berthold Brecht am 23. Mai gegen Carstens“ zu veranstalten. Die Akteurinnen und Akteure setzen Brechts Gedicht Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy in lebende Bilder auf der Straße um. Unterstützer der Aktion sind u.a. Hanne Hiob, die Tochter Bert Brechts, Günter Wallraff, Her-
mann Gremliza, Klaus Staeck und der ehemalige SPD-Abgeordnete Klaus Thüsing.6

MUSIK und ZEITSCHRIFTEN

In München toben Punk und New Wave: Am 16. und 17. März Tony Titt and the Torpedoes, The Nighthawks und The Marionettes im Loft in Haidhausen. Am 7. und 14. Juli spielen The Mario-
nettes
und Tony Titt and the Torpedoes im Damage. Im September erscheint die erste Ausgabe von Damage De-Luxe. Und ästhetisch: Seppi und Ziggy schneiden sich als erste Münchner wun-
derbare „Iros“.

THEATER

Alexeij Sagerer zeigt im „Der Tieger von Äschnapur“ den laufenden Tiegerjäger. Er schreibt den Tieger bewußt mit „ie“ ud betont, der kurze Film sei nicht jugendfrei. Die „Erste Bierrede zur Kunst“ ist es dagegen schon.7

(zuletzt geändert am 26.5.2021)


1 Karikatur von Dieter Hanitzsch in der Abendzeitung vom 19. Januar 1979

2 Siehe „Im Paradies der warmen Gefühle“ von Nina Grunenberg und „Haut dem Maier auf den Pinsel“ von Gerhard Tom-
kowitz.

3 Peter M. Dienstbier, „mit dir, du der“ — Geschichten und Gedichte in überwiegend bayerischer Mundart, Feldafing 1979.

4 Kunst + Unterricht 54 vom April 1979, Velber bei Hannover, 4.

5 Stadtchronik, Stadtarchiv München

6 Vgl. Hermann Gremliza/Angela Kammrad/Ute Schilde/Willi Thomczyk/Günter Wallraff (Hg.), Bertolt Brecht – Der ana-
chronistische Zug und Democracy. Bilddokumentation, München 1979.

7 Siehe https://vimeo.com/552089921 und https://www.youtube.com/watch?v=iuoGft4UZDg.