Flusslandschaft 1983
Alternative Szene
Bis zum 4. April 1981 sah es so aus, als ob die linksradikale Szene sich verbreitert und Erfolge erzielen kann. Die rigorosen Maßnahmen von Politik und Exekutive brachten die Trendwende.1
Im Zentrum für organisationslose Freaks und Fantasten (ZOFF) in der Hesstrasse 80 planen Jugendliche für Anfang April Aktionen.2
Die Freizeit ’81 hat ihre Nachwirkungen, Spassguerilla ist angesagt: „Freiheit dem Heinzelmann. Am Donnerstag, den 12. Mai 1983, um 17.30 Uhr Meeting vorm Siegestor und Radlfahrt durch die Innenstadt, Heinzelmänner Münchens, kommt alle!! Begießen wir die Freilassung des Heinzel-
manns, was zum Essen, Trinken und Rauchen mitbringen. An Drahtesel ned vergessen und wenn’s geht, an Sound dabeihaben. Kommt nackert! Schminken und Verkleiden. A Gaudi werd’s.“3
Das ZOFF, das einzige Zentrum, das sich autonom nennen kann und in dem Punk-Bands auftre-
ten, zieht in die Landsberger Straße 79, Rgb. um.4
„In den Tränen des Volkes sind die Herrschenden noch nie umgekommen. Die 1. Antistaats-Tage in München vom 26.9. bis 2.10.1983 … In der heutigen Zeit wird es für den Menschen immer un-
möglicher, sich über seine Arbeit zu definieren. Der Staat stellt sich bereits jetzt auf diese Situati-
on ein. Die Entwicklung neuer Medien, Aufbau einer Freizeitindustrie usw. sind erste Anzeichen. Neue Kontrollmechanismen, wie Verkabelung, Videoüberwachung, maschinenlesbarer Personal-
ausweis und Volkszählungen, sind der Versuch, die Unzufriedenheit und damit ein latentes Poten-
tial an Revolte im Vorfeld zu unterbinden. Daher ist die Beibehaltung von Freiräumen enorm wich-
tig, um überhaupt einen politischen Kampf weiterführen zu können. Zu diesen Themen haben wir Anarchisten aus Irland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Holland und Italien eingeladen … ZOFF, Landsberger Straße 79 Rgb., 8000 München 2 …“5
Die Münchner Ruhestörung gründet sich im Oktober 1983 anlässlich der Demonstrationen gegen die NATO-Nachrüstungsbeschlüsse. Angeregt durch die Begegnung mit einer Berliner Sambagrup-
pe, die mit ihrem Spiel den Protest der Menschenkette lautstark unterstützte, finden sich engagier-
te Münchnerinnen und Münchner zusammen, um auch in der bayrischen Residenzstadt mit Hilfe von Sambamusik die politischen Anliegen voranzutreiben. Als bei einer Demonstration durch die Straßen Bonns ein Anwohner mit dem Ausruf „Das ist ja Ruhestörung!“ seinem Missbehagen Aus-
druck verleiht, ist der Gruppenname „Münchner Ruhestörung“ geboren. Das Kollektiv von zeitwei-
se über siebzig Rhythmus-Besessenen ist in den kommenden Jahren als musikalischer Arm der linksalternativen Szene an allen brisanten Punkten den engagierten Widerstands gegen die Nach-
rüstung, AKWs, den § 218 und das Wiedererstarken des Nationalismus vertreten: Bonn, Mutlan-
gen, Wackersdorf, Memmingen … „Stimmung machen und dabei Spannung abbauen“ – das ist das Konzept der Münchner Ruhestörung. Und so sind es die Surdos, Repeniques, Caixas und natürlich die Sambapfeifen der Münchner Ruhestörung, die das akustische Bild vieler Demos in München prägen. Als dann gegen Ende der Achtziger Jahre das Breitenengagement und die politischen Großdemonstrationen nachlassen, ist die Münchner Ruhestörung vorwiegend dort zu finden, wo es gilt, Aufmerksamkeit für Aktionen im soziokulturellen Bereich zu bekommen. Auf vielen Stra-
ßenfesten wird seitdem die Stimmung angeheizt und dabei aktiv für eine multikulturelle, weltoffe-
ne Gesellschaft eingetreten. Die Neunziger Jahre sind geprägt von Auftritten bei Aktionen mit ge-
sellschaftspolitischen Charakter. Die Gruppe trommelt gegen die bayrische Aidspolitik, für femi-
nistische Projekte, gegen Genmanipulation, für Amnesty International und vieles mehr. Verstärkt kommen in dieser Zeit ungezählte Festivalauftritte hinzu. Der aufkommende Sambatrend führt zur Teilnahme an vielen internationalen Sambafestivals. Fahrten nach Turku (Finnland) und zum in-
ternationalen Sambafestival in Coburg sind angesagt. Die Münchner Ruhestörung gehört auch mit zu den Gründungsmitgliedern des Linzer Pflasterspektakels in Oberösterreich. Auch nach der Jahrtausendwende ist die Gruppe in der Szene aktiv. Benefiz-Konzerte für die Anti-Landminen-Organisation Handicap und die mitorganisierten Sambakonzerte Bragada zugunsten lokaler bra-
silianischer Projekte sind hier zu erwähnen. Neu sind die Engagements für Sportgroßveranstal-
tungen: kaum ein Lauf in München und Umgebung ohne die Trommeln und Pfeifen der Percussio-
nisten: Silvesterlauf, Firmenlauf, Stadtmarathon, Stadttriathlon sind allein in München die Statio-
nen. Durch die inzwischen musikalisch vielseitigere Aufstellung der Gruppe wird mit der Zeit auch eine immer buntere Bandbreite an Auftritten wahrgenommen: 20-Jahres-Jubiläum im EineWelt-
Haus, Clubkonzerte, Open-Air Konzerte und Feiern aller Art stehen heute mit auf dem Programm.
Am 13. November, dem Volkstrauertag, findet ein „Kasernenfrühstück“ von etwa hundertundfünf-
zig Leuten vor dem Munitionsdepot „Wächterhof“ 15 km im Südosten von München statt. Etwa hundertundfünfzig Polizisten versuchen, den Zugang zum Depot frei zu halten. Das Frühstück findet auf der Kreuzung vor dem Eingang statt. Autofahrer müssen ihr Tempo etwas drosseln, können aber weiterfahren. Nachdem man sich erfolgreich auf der Kreuzung vor dem Eingang gestärkt hat, umrundet die Gruppe die Anlage, wobei Kanonenschläge und Knallkörper geworfen werden. Da es ein kalter Tag ist, beginnen die ersten nach Hause zu gehen. Jetzt greift die Polizei zu und nimmt siebenundzwanzig Personen fest. Anzeigen erfolgen wegen Nötigung, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Aufruf zu Straftaten, Verstoß gegen das Waffengesetz, Landfriedens-
bruch, Körperverletzung, Gefangenenbefreiung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ein Be-
richt über die Ereignisse endet mit folgenden Worten: „Die Vernichtung des Militarismus muss geschehen durch konkrete Akte der Widergesetzlichkeit und des Ungehorsams gegenüber jeder Form der Autorität. Für eine Gesellschaft ohne Heere und Gefängnisse. Für die Anarchie!“6 – Auf geheimnisvollem Weg erhalten die Demonstranten einige Tage später den auf den 10. November 1983 datierten Einsatzplan der Polizei. Er wird im Juni 1984 veröffentlicht.7 – Im folgenden Jahr trudeln die Strafbefehle von 700,- bis 1.000,- DM ein. – Am 3. Dezember 1983 „belagern“ etwa hundert Menschen die McGraw-Kaserne in Giesing. Hier geschieht genau das Gleiche wie vor dem „Wächterhof“. Allerdings wird niemand verhaftet, nachdem die Gruppe sich nach der dazu auffor-
dernden Lautsprecherdurchsage der Polizei auflöst.
Am 6. März 1984 findet die vorgezogene Bundestagswahl statt. Kohl und Genscher wollen ihr Bündnis bestätigen lassen. Der dreiundsiebzigjährige Anarchist Hans Popper versucht mit einer Unterschriftenliste zum Wahlboykott zu motivieren.8
Im Dezember 1983 entsteht in München die Anarchistische Föderation Südbayern (AFSB). Im Januar des folgenden Jahres erscheint die Nullnummer des freiraum.
Die Bundesgeschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Arbeitskreise (ag spak) befindet sich in der Kistlerstraße 1, 8000 München 90, Tel. 69 17 821/2. Seit zehn Jahren veran-
staltet die ag spak Seminare, Kongresse und Aktionen auf den Feldern Stadtteilarbeit, Obdach-
losenarbeit, Knastarbeit, Antipsychiatrie, selbstverwaltete Jugendzentren, alternative Ökonomie und alternative Pädagogik.
Die alternative Szene hat sich weiter aufgefächert. Aktivistinnen und Aktivisten beschreiben, wie sich die Exekutive in den letzten Jahren verändert hat und plädieren für Gemeinsames im Vielen: „Mittlerweile und überhaupt … gehört mehr zum Widerstand als ein undefinierbares Kribbeln im Bauch, Es geht um Zusammenhänge, die wir begreifen müssen, wenn wir das Schweinesystem be-
kämpfen und nicht in Kamikaze-Aktionen untergehen wollen. Klar, fun und Hass und sofort und spontan, aber was fehlt: dem Apparat etwas Kontinuierliches entgegen zu setzen. Nicht nur von Bewegung zu Bewegung, von einer Reaktion auf Übergriffe der Herrschenden zur nächsten. Vor-
aussetzung dafür ist einfach, zu wissen, wie das System arbeitet, es zu durchzuschauen. Wir haben versucht, uns mit der Polizei, speziell der Münchner, auseinanderzusetzen.“9 Andere beschreiben, wie sie sich in den letzten Jahren verändert haben.10
(zuletzt geändert am 25.12.2020)
1 Siehe „Aus einem Gespräch: Anfang 1983“.
2 Siehe „Schlaft nicht länger euren selbstgerechten Schlaf“.
3 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
4 Siehe Fotos unter www.muenchen-punk.de/foto-archiv/448-zoff.
5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
6 Freiraum. Zeitung der anarchistischen Föderation Südbayern 0-Nummer vom Januar 1984, 2.
7 Siehe „Einsatzplan“.
8 Siehe „Erklärung“ von Hans Popper.
9 Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 10. Siehe „Die Polizei“.
10 Siehe „Statement von B. im Herbst 1983“.