Flusslandschaft 1986

Bürgerrechte

Mittwoch, 5. Februar: Die Polizei durchsucht drei Wohnungen, den Infoladen und eine Druckerei und beschlagnahmt den Freiraum 12. Begründung: § 111 (Aufruf zu Straftaten) und § 90 a (Verun-
glimpfung des Staates). Am 6. Februar besucht sie zwei linke Buchläden.

Am 1. Februar demonstrieren 2.000 Menschen „Für unser Widerstandsrecht und gegen den
Abbau des Demonstrationsrechts“ statt.

Dem seit 26 Jahren in München lebenden, aus Ägypten stammenden Magdi Gohary, der seit sieben Jahren Vorsitzender des Vertrauensleutekörpers in seinem Betrieb ist, wurde per Aus-
länderbehörde untersagt, weiterhin in der Bürgerinitiative für Frieden und Abrüstung oder anderen im Bayerischen Verfassungsschutzbericht genannten Organisationen tätig zu sein. Am
5. März bestätigt das Bayerische Verwaltungsgericht diese Auflage.

22. April: Umfrage unter Teilnehmern: Wie bewerten Sie Erfahrungen mit der Münchner Polizei?1

Seit Ende Juni verfügt die bayrische Polizei über zwanzig Gummischrotgewehre, die man aus der Schweiz besorgte. Bayern ist das einzige Bundesland, das über diese so genannte Distanzwaffe verfügt. 1971 wurden zum ersten Mal in Irland diese Geschosse eingesetzt. Zwischen 1972 und 1984 wurden fünfzehn Menschen, unter ihnen auch Kinder, getötet. 1981 wurden in Zürich Gummige-
schosse eingesetzt. Acht Menschen verloren infolge des Einsatzes dieser Waffe ein Auge, darun-
ter auch an Demonstrationen nicht beteiligte Passanten.

Die „Münchner Initiative zur Vereinigung der revolutionären Jugend“ demonstriert am 13. Juli beim Bunker am Viktualienmarkt gegen das seit fünfunddreißig Jahren in der BRD bestehende Verbot der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Die FDJ und ihr blaues Hemd mit dem Emblem einer Sonne auf blauem Grund ist verboten, der Protest gegen das Verbot noch nicht, so das Kreisver-
waltungsreferat, nachdem eine Rechtsanwältin interveniert hat. Vierundachtzig, etwa die Hälfte der Teilnehmer der Kundgebung, tragen ein blaues Hemd, und werden deshalb unter „Anwendung unmittelbaren Zwangs“ in die Ettstraße verfrachtet. In den folgenden Wochen kommen die Straf-
befehle von hundert bis viertausend Mark.2

„Ein Beleidigungsverfahren wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole ist gestern gegen die Dekorateure eines Optiker-Geschäftes an der Schellingstraße eingeleitet worden. In der Auslage waren zwölf Kohlköpfe mit Brillen und ein Bild des Bundeskanzlers und seiner Frau ausgestellt.“3

„Am Dienstag, den 14. Oktober 1986 wurde um 17.00 Uhr der Infoladen München von 7 Beamten des LKA heimgesucht. Vordergründig, um ein Bekennerschreiben zum Braunmühl-Attentat si-
cherzustellen, was am Dienstag per Postweg (einen Tag nachdem es TAZ und FR erhalten hatten) von unseren heimlichen Mitlesern bereits geöffnet und nicht wieder geschlossen im Infoladen an-
kam. Die Leute vom Infoladen wurden vor die Wahl gestellt, entweder den Brief herauszugeben oder eine Filze der Räume hinnehmen zu müssen. Sie entschieden sich für ersteres, woraufhin das LKA mit der Drohung der Festnahme noch die Angabe der Personalien erzwang.“4

Die Veranstaltung im Zunfthaus in der Thalkirchner Straße 76 im Schlachthofviertel am 4. Novem-
ber hat folgende Themen: „Situation und Kampf der politischen Gefangenen in der BRD und in Westeuropa. Zur Entwicklung des Kampfs um die Forderung nach Zusammenlegung der Gefange-
nen aus RAF und Widerstand seit dem Hungerstreik 1984/1985. Zum Prozess gegen Mareille Schmegner und Ingrid Barabass in Frankfurt.“ Zur Veranstaltung sind Angehörige der politischen Gefangenen und ein Rechtsanwalt eingeladen. Im Saal befinden sich etwa einhundertzwanzig Menschen. Eine Frau, die einem RAF-Gefangenen regelmäßig schreibt, liest gerade den letzten Satz ihres Beitrags vor, da stürmen Polizisten mit Kameras und Fotoapparaten den Raum, filmen und fotografieren. Fünf Minuten nach der Besetzung erklärt ein Beamter mit Hilfe eines Mega-
phons, dass die Veranstaltung mit Beschluss des BGH vom 3. November verboten ist. Je zwei Polizisten führen jeden der Anwesenden einzeln aus dem Raum auf das von etwa fünfhundert Polizisten umstellte leere, taghell ausgeleuchtete Nachbargrundstück. In bereit stehenden Bussen wird jede/r einzelne durchsucht und seine/ihre Personalien festgestellt. Es kommt zur Festnahme von acht Menschen, unter ihnen ist die Frau, die den Saal gemietet hat. Ziel der Aktion ist es, möglichst viele Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wer sich an den Aktionen für die Zusammenle-
gung der RAF-Gefangenen beteiligt. Sonst hätte man die verbotene Versammlung von vorneherein nicht stattfinden lassen. Im Beschluss des Bundesgerichtshofs vom Vortag, 3. November, heißt es: „… die (im Aufruf der Veranstaltung vorkommende) Aufzählung der krisen- und Kriegsprojekte, wie Gen- und Hochtechnologie, ziviles und militärisches Atomprogramm, Volkszählung und Asylrecht … beinhalten, dass sich die Veranstalter … mit der RAF identifizieren …“ – Ende 1986 endet der „Zunfthausprozess“ mit einem Freispruch für Wolli und zehn Monate auf Bewährung für Janin, beide angeklagt nach § 129a. – Ab jetzt häufen sich Verbote von Versammlungen staatskriti-
scher Inhalte, so die Veranstaltung über die Situation in Palästina im Café Normal in der Kreitt-
mayrstraße 15 im März 1987, die Veranstaltungen „Zum Befreiungskampf in Kurdistan“ im Som-
mer 1987 und die „Tour de Terror“ der Anti-AKW-Bewegung im März 1988.5

Die Strafverteidiger-Initiative berichtet am 2. Dezember in der Universität über Personenüber-
prüfungen und Personenfestnahmen, neue Gesetzesvorhaben und die mit ihnen verknüpften drohenden Verschärfungen in der Strafzumessung. Im Anschluss findet eine Spontandemo gegen das Verbot der BuKo in Regensburg statt. 200 Menschen demonstrieren die Leopoldstraße Rich-
tung Münchner Freiheit bis auf die Höhe des in der Szene so genannten Café „Extrablöd“ oder „Extraplatt“.6

Zum Ende des Jahres veröffentlicht das Münchner Polizeipräsidium wie immer eine Statistik, die allerdings oft unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt.7


1 Vgl. Süddeutsche Zeitung 93/1986.

2 Vgl. Süddeutsche Zeitung 158/1986 und die Dokumentation. Recht ist, was Strauß nützt. Rechtsbrüche der CSU im Jahre 1986, München 1986, unpag.

3 Süddeutsche Zeitung vom 21. August 1986.

4 Spion. Zeitung für München 50 vom Dezember 1986, 20.

5 Siehe „Zur Situation von politischen Veranstaltungen in München“.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 277/1986 und Spion. Zeitung für München 52 vom Februar 1987, 12.

7 Siehe „sicherheit“.