Flusslandschaft 2002
Gewerkschaften/Arbeitswelt
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- Druckindustrie
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ALLGEMEINES
„VERGEBENS // Den Wolf zu / streicheln/ ändert nichts / an seinem / Appetit“ Knut Becker1
Das Unwort des Jahres 2002 lautet „ICH-AG“. Damit ist gemeint, dass das Individuum innerhalb der Konkurrenzen permanent am Kurswert der eigenen Person zu arbeiten hat. Jeder ist sein eige-
ner „Unternehmer“. Solidarität bleibt auf der Strecke.
»Wir haben euch die Lebensmittelpreise erhöht, / wir haben euch die Zigarettenpreise erhöht, / wir haben euch die Schnapspreise erhöht, / wir haben euch die Automobilpreise erhöht, / wir haben euch die Kohlenpreise erhöht, / wir haben euch die Benzinpreise erhöht, / wir haben euch die Heizölpreise erhöht, / wir haben euch die Fahrpreise erhöht, / wir haben euch die Steuern er-
höht, / wir haben euch die Mieten erhöht, / wir haben euch alles erhöht, / aber jetzt auch noch die Löhne?«
DGB
Am Ersten Mai demonstrieren etwa 4.000 Menschen. Bei der Hauptkundgebung auf dem Marien-
platz sieht der zum 9. Mal eingeladenen Oberbürgermeister Christian Ude, der im Februar das De-
monstrationsrecht anlässlich der sogenannten „Sicherheitskonferenz“ erfolglos hat aufheben las-
sen, ein riesiges Transparent junger Gewerkschafter mit der Aufschrift „Wir lassen uns das De-
monstrieren nicht verbieten! … Herr Ude. Weder zur NATO-Tagung noch am 1. Mai“. Nachdem Ude ans Mikrofon tritt, entsteht ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert; Buhrufe sind zu hören „Schäm Dich!“, so dass er sein „Grußwort“ nach einer kurzen Beschimpfung der „30 Störer win-
ziger Gruppen“ abbrechen muss. Eine große Anzahl von Polizisten – teils im Kampfanzug – be-
wacht die Veranstaltung.3 Von Seiten der CSU gibt es für die Gewerkschaften nur Häme.4
Am 14. September findet eine bundesweite Demonstration mit etwa 40.000 Teilnehmern in Köln unter dem Motto „Her mit dem schönen Leben“ statt. Aufgerufen haben ver.di-Jugend, IG-Metall-Jugend, IG-BAU-Jugend, Junge NGG und Attac-Netzwerk, um ein Zeichen gegen neoliberale Poli-
tik zu setzen. Münchnerinnen und Münchner sind mit der Bahn nach Köln gefahren.
BANKEN
Im Tarifkonflikt des Bankgewerbes startet ver.di am 26. Juli eine neue Streikwelle. In Berlin und München bleiben mehrere hundert Bankfilialen geschlossen. In Berlin befinden sich rund 2.000 Bankangestellte im Ausstand, in München nehmen mehr als 1.000 Streikende an einer Kundge-
bung teil. In der bayerischen Landeshauptstadt können der Gewerkschaft zufolge mehr als 100 Bankfilialen nicht aufmachen, darunter alle 47 Filialen der Dresdner Bank sowie Geschäftsstellen der HypoVereinsbank und der Volksbank München. Der ver.di-Verhandlungsführer Hinrich Fed-
dersen fordert die Arbeitgeber des privaten Bankgewerbes auf, ohne Vorbedingungen an den Ver-
handlungstisch zurückzukehren. Die Tarifgespräche waren von der Gewerkschaft am 13. Juni für gescheitert erklärt worden. Auch Sondierungsgespräche am 13. Juli führten zu keinem Ergebnis.
DRUCKINDUSTRIE
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Es kommt im Mai zu Warnstreiks in der Druckindustrie.6
GESUNDHEITSREFORM
Mittwochabend, 19. Juni: Auf einer zwölf Kilometer langen Strecke durch die Innenstadt bis zur Münchner Freiheit wirbt eine Inline-Demo von Ver.dianerInnen für eine Gesundheitsreform, die die Interessen der Patienten, Versicherten und Beschäftigten im Mittelpunkt sieht.
POST
Angestellte und Beamte der Post mobilisieren im Juli mit einer Demonstration gegen die Liberali-
sierung der Postmärkte.7
SIEMENS
Aufsichtsräte sind gefordert. Sie passen auf und denken auch an ihren eigenen Vorteil. In erster Linie. Blöd sind sie nicht.8
Im August erhielten 2.600 der 6.700 Beschäftigten bei Siemens ICN (Information and Communi-
cation Networks) und ICM (Mobilfunk) die Kündigungen. „Begründung: Im IC-Bereich gebe es einen massiven und anhaltenden Markteinbruch (das Ende der New Economy) und die Geschäfts-
zyklen hätten sich hier von sieben auf zwei bis drei Jahre verkürzt; dies führe dazu, dass die Zeiten für die Entwicklung neuer Produkte länger seien als die Zeiten ihrer Vermarktung … Die Beleg-
schaft müsse reduziert werden auf eine kleine Kernmannschaft mit einer hochflexiblen Leiharbei-
terschaft am Rande, die formell nicht mehr zu Siemens gehöre.“10
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Im Oktober demonstrieren 2.500 „Siemensianer“ vor der Konzernzentrale am Wittelsbacherplatz. Auf einem Transparent heißt es: „Siemens feuert 2600 Mitarbeiter. Wir fordern 4-Tage-Woche statt Kündigungen.“ Daraufhin kann der Betriebsrat zwei Betriebsvereinbarungen abschließen.12
Am 11. November kommt der Tag der Blauen Briefe. Ein Betroffener schreibt: „Die Schockwelle läuft wie nach einer Explosion unsichtbar, aber von jedem spürbar durch unsere und uns bekannte Nachbarabteilungen. Der Betrieb ist heute paralysiert; viele wissen es, dass sie betroffen sind, viele haben noch keine Nachricht. Die, die damit gerechnet haben, sind in der Lage Erste Hilfe zu lei-
sten, reden, reden, reden … Die, die nicht damit gerechnet haben, laufen in einer Art Trance- und Schockzustand herum, bei denen, die halb damit gerechnet haben, arbeitet das Gehirn auf Hoch-
touren, ‚es denkt’ sozusagen von selbst, und kann nicht aufhören zu denken. Eine ganze betroffene Abteilung (darunter viele zwischen 48 und 54 Jahre) hat die Arbeit fallen lassen. Teilweise wurden ganze Gruppen fast vollständig aufgelöst. Unsere existiert praktisch auch nicht mehr. Es ist, als ob ein Leonidensturm über uns hinweggefegt ist oder ein Meteor eingeschlagen hat.“13
Daraufhin organisieren Beschäftigte und Entlassene das Beschäftigtennetz NCI (Network, Coope-
ration, Initiative), das weitere Informationen verbreitet, Gruppenzusammenhalt fördert, Diskus-
sionen anzettelt, über die Rechte der Beschäftigten informiert und Proteste und Gegenwehr organi-
siert.
Übrigens: Mit einem Konzerngewinn von 1,28 Milliarden €uro – nach Steuern, versteht sich – hat Siemens nach dem ersten Geschäftshalbjahr „einen überraschend hohen Gewinn vorgelegt“ (Financial Times Deutschland vom 26.4.02) und „die Erwartungen der Analysten übertroffen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.4.02). Auch das operative Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Ebit hat sich mit 919 Millionen €uro gegenüber dem Vorquartal fast verdoppelt.
(zuletzt geändert am 17.1.2024)
1 Knut Becker, Dienstagstexte, Rothenbuch 2002, 12.
2 Grafik: Bernd Bücking. In: Tatjana Fuchs, Arbeit und menschliche Würde. Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen in Deutschland, isw-Report Nr. 51, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., Juli 2002, 28.
3 Siehe „erster mai“.
4 Siehe „Wut und Ohnmacht der Genossen“ von Manfred C. Hettlage.
5 Grafik: Bernd Bücking. In: unsere zeit. Sozialistische Wochenzeitung 26 vom 28. Juni 2002, 2.
6 Siehe „Steinhausen unter Druck“ von Sibylle Endres.
7 Siehe das Flugblatt „Arbeitsplätze in Gefahr“.
8 Siehe „Andere feuern, selbst feiern“ von Fred Schmid.
9 Grafik: Bernd Bücking. In: Tatjana Fuchs, A.a.O., 19.
10 Soz. Sozialistische Zeitung 6 vom Juni 2003, 10.
11 Conrad Schuhler (Hg.), Schöne neue Siemenswelt. Von der „Siemens-Familie“ zur „new corporate culture“, München März 2003, 13.
12 Siehe „Siemens AG München: Bericht aus der Hofmannstraße“.
13 Soz. Sozialistische Zeitung 9 vom September 2003, 9.