Flusslandschaft 2007

Flüchtlinge

Bayern verwahrt „seine“ Asylsuchenden in beengten tristen Gemeinschaftsunterkünften, überzieht sie mit restriktiven Vorschriften und sorgt damit für eine „abschreckende Außenwirkung“. Oft ist es nur ein Zufall, wenn Asylsuchende einer Hilfsorganisationen auffallen und dann unterstützt werden. Aber diese Einzelfälle machen Mut.1

„Für das ganze Bleiberecht! Schluss mit dem Angstzustand Duldung!“ steht auf einem Transparent bei einer Demonstration vor der CSU-Zentrale in der Nymphenburger Straße 64 in Neuhausen am 24. Februar.2

Das bayrische Innenministerium erteilt ungerührt am 17. April eine Weisung an die Ausländerbe-
hörden, Listen von abschiebefähigen Flüchtlingen aus dem Nordirak, die während ihres Aufenthal-
tes zu einem Strafmaß von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt wurden, zu erstellen. Dies betrifft vor allem Flüchtlinge, die sich aufgrund ihrer Flüchtlingssituation strafbar gemacht haben. Wer beispielsweise Geld an seine Familie in den mit einem Boykott belegten Irak geschickt hat, wird wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz mit hohen Strafen belegt.

Der Irak ist eines der unsichersten Länder der Welt. Trotzdem sind Abschiebungen in den Irak in Vorbereitung. Anerkannten Flüchtlingen wird das Asyl entzogen – immer mehr Iraker, die seit Jahren hier leben, werden in den Angstzustand „Duldung“ zurückversetzt. Zum ersten Mal wird eine Flüchtlingsgruppe allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit besonderen Verschärfungen unterworfen. Am Samstag, 31. März, findet eine Demonstration gegen die Entrechtung der iraki-
schen Flüchtlinge in Bayern statt: 14.30 Uhr Kundgebung Stachus; 15.00 Uhr Demonstration zum Marienplatz. Die Demonstration wird organisiert von irakischen Flüchtlingen; UnterstützerInnen: Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen – München, Jugendliche Ohne Gren-
zen – Bayern
, Münchner Flüchtlingsrat, Bayerischer Flüchtlingsrat.3

Siegfried Benker meint am 20. April: „Der Krieg der USA hat zwar das verbrecherische Regime Saddam Husseins beendet, aber gleichzeitig den Irak vollkommen destabilisiert. Täglich sterben Dutzende, wenn nicht Hunderte von Irakern bei Bombenanschlägen oder durch Schießereien. Ent-
führungen sind an der Tagesordnung. Sicherheit kann die Regierung nicht einmal mehr in der sog. Grünen Zone in Bagdad garantieren. Doch so richtig, wie sich die Bundesregierung verhalten hat, als sie eine Kriegsbeteiligung gegen den Irak ablehnte, so beschämend verhält sie sich gegenüber den Flüchtlingen. Anstatt, wie andere Länder, deutlich zu machen, dass Abschiebungen in den Irak unmöglich sind, beginnt man jetzt damit, Menschen in die Kriegsregion abzuschieben. Inhumaner kann Flüchtlingspolitik kaum noch sein. Auch der Nordirak, in den zunächst abgeschoben werden soll, ist nicht sicher genug um dorthin abzuschieben. Es gibt dort keinerlei Infrastruktur oder Ein-
gliederungshilfen für Flüchtlinge, die dann buchstäblich vor dem Nicht stehen. Außerdem kann nach allen Erfahrungen davon ausgegangen werden, dass nach den Straftätern mit mehr als 50 Tagessätzen auch alle anderen Flüchtlinge aus dieser Region abgeschoben werden sollen.“4

Am 21. April veranstalten sechs Mitglieder der Karawane eine Kundgebung vor dem Flüchtlings-
lager in der Tischlerstraße. Sie protestieren dagegen, dass Flüchtlinge aus dem Irak einer iraki-
schen Delegation in der irakischen Botschaft vorgeführt werden, die Ersatzpapiere ausstellt, damit die Flüchtlinge in den Irak abgeschoben werden können. Auf dem Transparent der Demonstranten ist zu lesen: „Sagt kein Wort ohne Anwalt! Abschiebung stoppen!“ Beamte des USK bedrängen die Demonstranten massiv, während sie gleichzeitig von der Polizei gefilmt werden. Zwei Flugblattver-
teiler erhalten eine Anzeige wegen „Aufforderung zu Straftaten“. Im Flugblatt wird darauf hinge-
wiesen, dass die Botschaftsvorführung der Abschiebung diene und man sich überlegen solle, hier kooperativ zu sein. Eine Anfrage des Landesbeauftragten für Datenschutz beantwortet die Polizei zunächst mit der Behauptung, es sei überhaupt nicht gefilmt worden. Auf Nachfrage gibt das Münchner Polizeipräsidium die Wahrheit scheibchenweise zu – wenigstens ein bisschen.5

Vom 19. Mai bis 10. Juni zeigt die Seidlvilla am Nikolaiplatz 1b in Schwabing die Ausstellung „Der Delfin im Vulkan“ mit Bildern und Objekten von Flüchtlingskindern für Flüchtlingskinder.

„In Rostock findet im Rahmen des Anti-G8-Widerstands am 4. Juni ein antirassistischer Aktions-
tag statt. Die Karawane München organisiert eine Gedenkkundgebung in Rostock-Lichtenhagen – dort wo 1992 ein rassistischer Mob ein tagelanges Pogrom veranstaltete. Über 2.000 Menschen beteiligen sich und setzen ein eindrucksvolles Zeichen. Anschließend zieht trotz anhaltender poli-
zeilicher Behinderung eine antirassistische Großdemo mit über 8.000 Leuten durch Rostock.“6

Kurdinnen und Kurden werden genau überwacht. Das PKK-Verbot kann gegen fast alle türkeikri-
tischen Aussagen angewendet werden. Am Donnerstag, den 5. Juli, durchsuchen 186 Polizisten so-
wie USK-Kommandos dreiundzwanzig Wohnungen und Büros von Kurdinnen und Kurden sowie von deutschen Unterstützern der kurdischen Befreiungsbewegung. Sie beschlagnahmen Computer, Handys, Bücher und Broschüren. Sogar Haydar Işik, einer der bekanntesten Exil-Kurden in Mün-
chen, der ein kurdisches Neujahrsfest NEWROZ organisiert hat, wird am 5. Juli verhaftet.7 Oskar Brückner, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern: „Ich halte die Verhaftung unseres Mitglieds und ehemaligen Lehrers Haydar Işik für einen unglaublichen Vorgang. Der 69-Jährige wurde um 6.00 Uhr früh von zwölf Einsatzkräften, z.T. in Kampfanzügen überfallen, alle Computer, Handys und Papiere beschlagnahmt, obwohl offensichtlich keine Bewei-
se für Straftaten vorlagen. Die offizielle Begründung hieß: Verstöße gegen das Vereinsgesetz! Selbst der Leiter des Staatsschutzdezernats, Jörg Beyse, bezeichnete die Verhaftung als ‚repressive Maß-
nahme’. Dieses Vorgehen passt zu Diktaturen, aber nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat.“ Erst 2010 wird die Hauptverhandlung gegen Işik nicht zugelassen.8

„Vom 7. bis 9. August veranstaltet die Regierung von Oberbayern in München wieder mal eine Ab-
schiebeanhörung mit der Botschaft von Nigeria, die für jedes Interview und für jedes ausgestellte ‚Heimreisepapier’ eine Prämie von 250 Euro erhält. Im Vorfeld schickt die Karawane München ein Protestschreiben an die Botschaft. Außerdem wird in der europaweit erscheinenden Zeitung ‚Africa News’ ein Artikel über die korrupten Abschiebe-Machenschaften der Botschaften veröffentlicht. Die Anhörung selbst begleitet die Karawane mit tagelangem Protest. Versuche, mit den betroffenen Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen und sie zu warnen, werden von der Polizei massiv gestört.“9

„10. September 2007: Nihad Ramazan soll mit der Abschiebeairline Zagros-Air in den Irak abge-
schoben worden. Durch öffentlichen Druck sieht sich Zagros-Air, gegen die eine Kampagne läuft, gezwungen, Nihads Flug zu stornieren. Zwei Monate später schließlich die erfreuliche Nachricht: Nihad erhält einen Abschiebeschutz und kann in Deutschland bleiben.“10

Asylsuchende, viele von ihnen mit Bleiberecht, leben in Baracken, in so genannten Gemeinschafts-
unterkünften wie in der Emma-Ihrer-Straße und am Rosa-Luxemburg-Platz sowie in der Unter-
kunft für Kranke und Traumatisierte in der Ernsberger-Straße 29 in Pasing. Im Herbst plant die Regierung von Oberbayern die überraschende Auflösung dieser drei Unterkünfte. Die Bewohner sind verunsichert und haben Angst; sie befürchten, irgendwohin nach außerhalb verbannt zu wer-
den. Oder die noch bestehenden Containerunterkünfte werden noch dichter belegt. Der Münchner Flüchtlingsrat, Refugio und viele andere protestieren.

„Am 22. September gibt es in München eine Panafrikanismus-Konferenz, die von der Karawane unterstützt wird. Erinnert wird an den antikolonialen Befreiungskampf auf dem afrikanischen Kontinent. Aus ganz Deutschland kommen politisch aktive und interessierte AfrikanerInnen ange-
reist, um einen ganzen Tag lang im Goethe-Forum über die Perspektiven panafrikanischer Einheit, und die Befreiung aus neokolonialer Abhängigkeit zu diskutieren. — Der 16. November 2007 ist ein unvergesslich trauriger Tag für die Karawane. Denn an diesem Tag stirbt unsere liebe Freundin und Mitstreiterin Ilse-Marie Claassen. Ilse, Du fehlst uns allen! Wir vergessen Dich nie. Und wir versprechen Dir, dass wir so schnell nicht aufgeben.“11

Am Samstag, 8. Dezember, findet in München eine Demo „Keine Abschiebungen in den Irak! De-
monstration für Flüchtlingsschutz statt Menschenverachtung!“ statt, die vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Situation zwischen der Türkei und dem Nordirak von großer Aktualität ist. Diese kritische Situation, so die Veranstalter im Demonstrationsaufruf, werde durch die Abschiebungen aus Deutschland noch verstärkt. Der Nordirak solle nun auch Menschen aufnehmen und versor-
gen, die nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland keine Bindungen mehr dorthin haben und nicht wissen, wie sie dort überleben sollen. Demonstration Auftakt 13 Uhr: Georg-Freundorfer-Platz. Abschluss 16 Uhr: Odeonsplatz, Bayerisches Staatsministerium des Inneren.12


1 Siehe „Radio Eriwan und das Asylrecht“von Carl Wilhelm Macke.

2 Siehe „Aktionstag für das ganze Bleiberecht rund um den 24. Februar 2007“ und die Bilder der Demonstration und Kundgebung „für das ganze bleiberecht“ von Andrea Naica-Loebell.

3 Siehe die Bilder der Kundgebung „keine abschiebungen in den irak“ vom 31. März von Andrea Naica-Loebell.

4 www.siegfried-benker.de.

5 Vgl. Vgl. www.carava.net/2009/12/02/der-datenschutzskandal-der-karawane/ und www.datenschutz-bayern.de; vgl. Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 37 f.

6 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 38.

7 Siehe „Kurdenverfolgung in der Türkei – Repression in Deutschland“.

8 Siehe „Anklage gegen Haydar Işik nicht zugelassen“.

9 Karawane München – die ersten zehn Jahre, München 2008, 38.

10 A.a.O., 9.

11 A.a.O., 38. Siehe „Good bye Ilse, wir sind froh, dass wir Dich kennen durften“ und „Die Karawane hat mir Mut und Entschlossenheit gegeben …“ von Hamado.

12 www.proasyl.de.