Flusslandschaft 1957
Jugend
22. Januar 1957: „Der Kulturpolitische Ausschuss diskutiert das ‚Halbstarken-Problem’. Die Abge-
ordneten setzen mehrheitlich auf pädagogische Maßnahmen. – Der Psychologie-Professor Huth klärt die Kulturpolitiker über die Hintergründe der ‚Halbwüchsigen-Frage’ auf. Die Jugend von heute sei körperlich zwei Jahre zu früh dran, seelisch aber vier Jahre zu spät. Die Bandenbildung nennt der Psychologe eine natürliche Erscheinung. Gefährlich sei sie nur deshalb geworden, ‚weil keine sittlichen Grundsätze dahinter stehen’. Dafür macht Prof. Huth den Zerfall der Familien ver-
antwortlich, aber auch das Kino, Sexualreize, Schmutz- und Schundhefte und die Gewöhnung an den ‚dauernden Lärm des Rundfunks’. – Der CSU-Abgeordnete Heinrich Junker will das Problem durch hartes Durchgreifen lösen. Die Mehrheit aus SPD und FDP folgt jedoch nicht seinem Vor-
schlag, die Schulgesetzgebung zu ändern, damit Schüler, die eine ernstliche Gefahr für die sittliche Entwicklung der anderen oder für den Unterricht bedeuten, aus der Schule ausgeschlossen werden können. SPD und FDP setzen stattdessen auf die Mittel der Pädagogik. Schon eine Woche zuvor scheiterte Junker mit seinem Antrag, Widerstand gegen die Staatsgewalt durch Halbstarke mit Mitteln zu brechen, die bis an die Grenze des Gesetzes gehen’.“1
In den Münchner Kinos läuft „Ein Gesicht in der Menge“ von Elia Kazan. Der Film stellt unbeque-
me Fragen.2
Üblicherweise fordern Eltern von ihren Kindern, sie müssten sich „anständig benehmen. Was sol-
len denn sonst die Nachbarn denken!“ Der beständige Druck zum konformen Verhalten trifft auf instinktiven Widerstand bei Jugendlichen. Da kommt gegen Ende des Jahres ein US-amerikani-
scher Film in die Münchner Kinos, der eine neue Haltung feiert. In den „Zwölf Geschworenen“ stellt sich Geschworener Nummer 8, gespielt von Henry Fonda, als einzelner gegen die Mehrheit seiner Mitgeschworenen. Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist ihm wichtiger als das bequeme Mitläufertum unter dem Druck der Mehrheit. Mancher Jugendliche fühlt sich nach dem Besuch des Films in seiner Verweigerungshaltung bestärkt. – Die öffentliche Diskussion veranlasst die Münchner Kammerspiele, ein Jahr später die „Zwölf Geschworenen“ auf die Bühne zu bringen. Die Uraufführung findet am 14. Oktober 1958 statt.
(zuletzt geändert am 28.5.2021)
1 Peter Jakob Kock, Der Bayerische Landtag. Eine Chronik, Bamberg 1991, 116 f.
2 Siehe „Ein Gesicht in der Menge“.