Flusslandschaft 1969

Alternative Szene

Irmgard Möller, Fritz Teufel, Rosemarie Heinikel, Jimmy Vogler und zwei weitere Genossen gründen im 4. Stock der Einsteinstraße 151 in Haidhausen die Kommune „Wacker Einstein“.
Nicht weit entfernt, in der Metzstraße 15, wohnen Brigitte Mohnhaupt und Rolf Heißler, mit
denen „Wacker Einstein“ befreundet ist.

Im Mai reisen etwa achtzig Menschen, unter ihnen Fritz Teufel, ins fränkische Ebrach. In der dortigen Justizvollzugsanstalt sitzt Reinhard Wetter, weil er im letzten Jahr einen Stein gegen
das griechische Generalkonsulat geworfen haben soll. Die achtzig wollen die JVA stürmen, aber
so recht klappt es nicht. Daher versuchen die Aktivisten einen neuen Anlauf. Teufel will in Ebrach ein einwöchiges Festival veranstalten, bei dem Amon Düül und Tangerine Dream spielen sollen. Für den 15. Juli mobilisieren „Wacker Einstein“, Rote Hilfe und der Erlanger Politladen Smash zum „Knast-Camp“ vor der JVA Ebrach für die „Aufklärung der Öffentlichkeit über den Strafvoll-
zug in der BRD und für vollen Lohn für die Gefangenen“.1 Der Landrat untersagt das Zelten außerhalb genehmigter Campingplätze und den Aufbau eines großen Zeltes. Es kommt zu Aus-
einandersetzungen zwischen APO-Aktivisten und ordnungsliebenden Bürgern. Etwa vierzig APO-
AnhängerInnen stürmen das Bamberger Landratsamt. Hiervon unterrichtet der Bamberger CSU-
Funktionär Anton Hergenröder seinen Parteichef. Schließlich sendet der CSU-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß am 18. Juli ein Telegramm an den bayerischen Minister-
präsidenten Alfons Goppel, in dem er der APO bescheinigt, sie benehme sich „wie Tiere“.2

Der Deutsche Richterbund reagiert: „Das Vokabular erinnert an Nazizeiten. Auch Rechtsbrecher sind Menschen. Die Störung der öffentlichen Ordnung durch Gewalttaten erfordert gesetzmäßige Schutzmaßnahmen, aber die Ordnung ist – wie Bundespräsident Heinemann jüngst in Berlin sagte – kein Selbstzweck. Der Deutsche Richterbund wendet sich daher gegen jeden Versuch, unbeque-
me einzelne oder Minderheiten außerhalb der Legalität zu verfolgen.“ Strauß antwortet dem Rich-
terbund: „Zeitungsmeldungen entnehme ich, dass der Deutsche Richterbund festgestellt hat, Äußerungen von mir erinnerten an das Vokabular der Nazizeit. Hierzu bemerke ich, dass Mitglie-
der der Gruppe, die sich gern außerparlamentarische Opposition nennt, in der Bundesrepublik nicht nur eine systematische Behinderung der Polizei und anderer Behörden bei ihrer Aufklärungs- und Sicherheitstätigkeit betreiben, sondern darüber hinaus Verhaltensweisen zeigen, die sonst nur für Geisteskranke bezeichnend sind. Es häufen sich die Klagen von Polizei- und Gerichtsbeamten zum Beispiel über das Urinieren auf Fußböden von Amtsstuben und über Kotbeschmutzung von Diensträumen. Ich habe aber nicht verlangt, dass Leute, die sich wie Tiere benehmen, auch wie Tiere behandelt werden sollen. Eine derartige Behauptung wäre eine böswillige Verdrehung. Ich habe lediglich festgestellt, dass die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht mög-
lich sei, weil diese Gesetze auch bei Rechtsbrechern noch mit Reaktionen rechnen, die der mensch-
lichen Kreatur eigentümlich sind … Es ist daher schwer verständlich, dass ausgerechnet der Rich-
terbund derartig menschenunwürdiges Verhalten zu rechtfertigen versucht und mich angreift, wenn ich mich bemühe, ein Mindestmaß an Autorität gerade der Justiz zu erhalten.“ Darauf der Richterbund: „Ihre von uns kritisierte und auch in Ihrem Fernschreiben wiederholte Auffassung, dass die von Ihnen genannten Verhaltensweisen ‚die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich’ macht, impliziert die Aufforderung zu einer außergesetzlichen Verfolgung. Gegen die Auffassung, dass bestimmte Gruppen unseres Volkes – und mögen sie sich auch ge-
setzwidrig verhalten – rechtlos gestellt werden sollten, müssen wir uns jedoch im Interesse der Rechtsstaatlichkeit wehren, dies zumal nach den bitteren Erfahrungen, die im ‚Dritten Reich’ mit dem Ausschluss bestimmter Gruppen der Bevölkerung vom Schutz der Gesetze gemacht worden sind. Wir sind auch nicht der Meinung, dass Ihre Äußerung geeignet ist, die Autorität der Justiz zu stärken.“3

In einer kleinen, leeren Fabrikhalle irgendwo draußen an der Ungererstraße, glaube ich, denn die Zeit ist ziemlich hektisch und man bringt manches durcheinander, sitzen am 29. September 1969, am Tag nach der Wahl zum 6. Deutschen Bundestag, einige Menschen im Kreis herum. In der Mitte Rolf Schwendter. Mit Hilfe einer Kindertrommel singt er Lieder, die ein handelsübliches Tonbandgerät aufnimmt, unter anderem: „Die, die da herrschen, / die ham ein Alibi. / Das Alibi heißt Freiheit / und heißt Demokratie. / Doch ist das demokratisch, / wie ich’s begreif’, / wenn man mich in vier Jahren / mal zur Wahlurne schleift?“ Der dünne, aber begeisterte Applaus belegt die Zufriedenheit der Anwesenden mit einem „Werbelied für die Konsumgesellschaft“ und einer Rolling-Stones-Nummer „Ich bin noch immer unbefriedigt“. Die Schallplatte dieser Aufnahme verkauft sich schlecht, wird aber oft geklaut.4

Siehe auch „CSU“ und „Militanz“.


1 Siehe „knastcamp ebrach“, „Wir lassen uns nicht …“, „In Bayern herrschte Alarmstimmung“ von Peter Schult und „Sieben wilde Tage“ von Willi Winkler; vgl. Kathrin Seybolds Film über Ebrach; vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahr-
heitsfindung dient, Hamburg 2003, 137 ff.

2 Siehe „Lenke Ihre Aufmerksamkeit …“ von Franz Josef Strauß.

3 Zit. in Der Spiegel 31 vom 28. Juli 1969, 20.

4 Siehe „Ich bin noch immer unbefriedigt“, „Ballade von der Geldwirtschaft“ und „Abendgebet eines Kindes, das Wilhelm Reich gelesen hat“ von Rolf Schwendter.