Flusslandschaft 2013

Flüchtlinge

Vor einem Jahr, am 28. Januar 2012, nahm sich Mohammad Rahsepar im Alter von 29 Jahren in Würzburg das Leben. Nachdem er im Iran als Polizist Befehle verweigert hatte, wurde er schwer misshandelt und floh nach Deutschland. Anstatt von Beginn an psychologisch betreut zu werden, musste er zusammen mit rund 450 Personen in einem der größten Flüchtlingslager Bayerns leben. Als er dort keinen Ausweg mehr sah, erhängte er sich in seinem Zimmer. Am 28. Januar 2013 legt die Karawane München vor dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen in der Winzererstraße 9 in Westschwabing einen Kranz in Gedenken an die Opfer der bayrischen Asylpolitik nieder.1

In der „Gemeinschaftsunterkunft“ für Asylsuchende in der Bayernkaserne in Milbertshofen brodelt es im Februar.2

Anfang April kursiert bei Aktivisten und Aktivistinnen der Flüchtlingsarbeit ein Aufruf.3

Am 25. April bauen die Non-Citizens ihr Protestzelt erst vor der Ludwig-Maximilians-Universität, später dann auf dem Odeonsplatz für insgesamt zehn Tage auf.4

Nach dem Marsch der Flüchtlinge von Bayern nach Berlin, den vielen Protest- und Widerstandsak-
tionen in verschiedenen bayerischen Flüchtlingslagern und Unterkünften gegen die Schikanen der Residenzpflicht, der Forderungen nach Bleiberecht, Recht auf Bildung, Gesundheit und medizini-
sche Versorgung, Bewegungsfreiheit, angemessene Ernährung und soziale Leistungen, dem Recht auch offiziell zu arbeiten bzw. in die Schule zu gehen und den vielen refugee-struggle-Konferenzen, meetings und Demonstrationen beginnt in München eine neue Phase des Kampfes von Flüchtlin-
gen und abgelehnten Ayslbewerbern aus verschiedenen bayerischen Flüchtlingslagern und Men-
schen von allen Kontinenten. Am Samstag, 22. Juni, besetzen rund 90 Flüchtlinge nach einer anti-
rassistischen Demo, die um 14 Uhr unter dem Motto „No Nation! No Border!“ vom Stachus in Richtung Bayerischer Landtag führt, den Rindermarkt, errichten dort ein Camp und treten in einen Hungerstreik. Ihr Ultimatum an die Bundesregierung und Bayerische Staatsregierung, innerhalb von drei Tagen ein substantielles politisches Angebot zu machen, bleibt von den verant-
wortlichen PolitikerInnen ungehört und unbeantwortet. Von Polizei, Regierung und Stadt wird das Camp seitdem „geduldet“ – Um das Camp herum bilden sich Gruppen von Diskutierenden. Ein Herr meint, „WIR werden von denen da erpresst“. Eine Frau fragt zurück, „SIE werden also er-
presst?“ und sie meint, „Also, ICH werde nicht erpresst“. UnterstützerInnen sind 24 Stunden Tag und Nacht vor Ort und schirmen das Camp nach außen ab: Die Flüchtlinge haben sich komplett selbstorganisiert, bestimmen jede Entscheidung autonom auf internen Plenen (in fünf Sprachen – viele kommen aus Ländern wie Iran, Irak, Kongo, Nigeria, Somalia, Sudan, Bangladesh usw.) und lassen ihre Entscheidungen durch „BotschafterInnen“ nach außen in Englisch und Französisch vermitteln an die UnterstützerInnen, die Medien und die Behörden von Stadt und Staat.

Nach den ersten drei Tagen Hungerstreik ohne politische Reaktion der Verantwortlichen entschlie-
ßen sich ca. 60 Flüchtlingen dazu, in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten, einige (minde-
stens vier Flüchtlinge) treten seit Mittwoch, 26. Juni, in einen unbefristeten Durststreik (es können auch schon mehr sein) – viele sind gesundheitlich bereits durch Vorerkrankungen und ihre Flucht-
geschichte schwer vorbelastet. Und sie sind fest dazu entschlossen, ihre Aktion fortzuführen, um ihre Forderungen durchzusetzen – so oder so. Sie teilen ihren deutschen Unterstützerinnen mit, dass sie wissen, was sie tun und ihre politische und individuelle Entscheidung, diese Streiks fortzu-
setzen, bis ihre Forderungen erfüllt werden, sind frei und bewusst getroffen worden – sie haben nichts mehr zu verlieren, aber viel zu gewinnen …

Am Donnerstag findet eine offizielle Verhandlungsrunde von Vertretern der Bayerischen Staatsre-
gierung, der Münchner Sozialreferentin (SPD), die von städtischer Seite die politische Verantwor-
tung trägt und einem Vertreter der Flüchtlinge statt: Von der Staatsregierung gibt es eine klare Stellungnahme, die auch nachmittags über die Medien verbreitet wird: Man lasse sich nicht „er-
pressen“, fordere die sofortige Beendigung des Hunger- und Durststreiks und mache keinerlei Angebote. Ach, Ihr überaus christlichen Politiker! Ihr stellt Paragraphen über Menschenleben. Eure Herzen sind aus Stein und Beton ist in Eurem Kopf. – Die Vertreterin der Stadt München bietet zunächst an, falls die Flüchtlinge ihren Durststreik sofort abbrechen und wieder trinken, werde man Zelte mit Böden und Feldbetten von der Stadt zur Fortsetzung der Protestaktion zur Verfügung stellen. Nachdem die Flüchtlinge das kategorisch ablehnen, erneuert die Stadt München dieses Angebot ohne Vorbedingung und teilt dies auf einer Pressekonferenz öffentlich mit. Der Konflikt spitzt sich zu. Die Bayerische Staatsregierung, ihre Behörden und die Polizei haben inzwi-
schen ihre politische Verantwortung abgegeben und der Stadt München das Feld überlassen. Ein kluger Schachzug, egal, was die Stadt München macht. Kommt es zu Todesfällen, kann sie hinter-
her immer noch sagen, die Staatsregierung hätte eben sofort geräumt und alle Streikenden zwangs-
ernährt, setzen sich die Streikenden durch, kann sie „den Stammtisch“ mobilisieren und sagen, die SPD-regierte Stadt habe sich „erpressen“ lassen. Inzwischen kollabieren immer mehr Streikende, mindestens eine Person befindet sich auf der Intensivstation. Nach der Zusage der Flüchtlinge, sich von einem Arzt ihres Vertrauens medizinisch begleiten zu lassen und nach Beratung bei Le-
bensgefahr jeweils eine freie Entscheidung zu treffen, ob sie in die Klinik gehen, sichert die Stadt den Flüchtlingen und gegenüber MedienvertreterInnen zu, das Camp zu tolerieren und auf keinen Fall räumen zu lassen. Die Stadt wiederholt das Angebot von besseren Zelten und Betten – darüber hinaus ist sie aber bisher nicht bereit, mit Verweis auf die geltende Bundesgesetzeslage (Asylrecht u.a.) den Flüchtlingen irgendein politisches Angebot zu machen.

Freitag, 28. Juni: Gegen 19 Uhr transportiert der Krankenwagen einen weiteren Hunger- und Durststreikenden, der kollabiert ist, vom Rindermarkt ins Krankenhaus. Neben dem Camp der Non-Citizens stehen mehr als Hundert Menschen, viele von ihnen wollen nicht zusehen, wie sich die Betroffenen zu Tode hungern und absehbar dehydrieren. Es geht jetzt darum, den verzweifel-
ten Kampf der Flüchtlinge zu unterstützen. Mit Protestschreiben und Demonstrationen.5

Am Freitag, 28. Juni, veröffentlichen die Hungerstreikenden dieses Statement: „Wenn unsere Körper zu unseren Waffen werden – Heute ist der 7. Tag des generellen Hungerstreiks und gleichzeitig der 4. Tag des trockenen Hungerstreiks. Bis jetzt sind 21 von uns kollabiert und wurden zwischenzeitlich ins Krankenhaus gebracht, während die Regierung zahlreiche Versuche unternimmt, diesen Protest ohne jegliche Gegenleistung zu stoppen, anstatt Verantwortung zu übernehmen und eine Lösung zu finden. Letzte Nacht gegen 23:00 Uhr wurde unser Vermittler von den Behörden zu einem anderen Ort bestellt, um ihm ein neu aufgebautes medizinisches Zelt zu präsentieren. An dem Ort, zu dem sie ihn führten, stand jedoch kein Zelt dort, sondern es fand nun ein unangekündigtes Treffen statt, in dem immenser Druck aufgebaut wurde, um immer weitere Schwierigkeiten zu erzeugen und uns von unserem Kampf aufzuhalten. – Dies ist unsere letzte Nachricht – Heute, am Freitag den 28. Juni, verkündet die erste Gruppe der Asylsuchenden im trockenen Hungerstreik, bei vollem physischen und psychischen Bewusstsein, dass sie keinen Schritt zurückweichen werden, bis ihre Forderung erfüllt ist, und bis zu diesem Zeitpunkt weisen sie jede Behandlung von Ärzt_innen zurück! Die deutsche Regierung muss erkennen, dass politi-
sche Spiele vorüber sind und dass es nur zwei Einbahn-Straßen zu beschreiten gibt: Entweder die Erfüllung der exakte Forderung der hungerstreikenden Asylsuchenden oder Bobby Sandes und Holger Meins auf den Straßen Münchens!“

Sonntag, 30. Juni, 5 Uhr in der Frühe. Die Polizei räumt das Lager, UnterstützerInnen werden
in Gruppen zusammengetrieben, einige werden festgenommen, Asylsuchende, die sich wehren, werden geschlagen, Hunger- und Durststreikende mit Gewalt abtransportiert. Nicole Gohlke, die bei der Räumung anwesend ist, kritisiert die Aktion: „Die Polizei ist mit völlig unangemessener Härte gegen die durch sechs Tage Hungerstreik geschwächten Flüchtlinge vorgegangen. Das war Eskalation statt Verhandlung.“ Ein „substanzielles Angebot an die Flüchtlinge“ habe es nicht ge-
geben. „Und der behauptete Notstand, der zur Räumung führte, war eine Lüge.“6

Am 8. Juli besucht Papst Franziskus Flüchtlinge auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. Ist die Kritik des Kirchenoberhaupts an den herrschenden Zuständen erst zu nehmen?7


Eine Solidaritätskundgebung findet von Donnerstag, 11. Juli, 18 Uhr bis 12. Juli, 6 Uhr morgens, am Rindermarkt statt. Auf dem Flugblatt, das hier verteilt wird, heißt es u.a.: „Konstantin Wecker postete auf facebook an über 45.000 Follower, die das gut fanden: Liebe Freunde, Ich bin entsetzt und schäme mich für einige Kommentare hier auf meiner Seite. Und ich bin erzürnt über die Ig-
noranz all derer, die so kaltherzig betonen, dass der Staat nicht von diesen Verzweifelten erpresst werden darf. Fällt euch denn nicht auf, dass der Staat andauernd erpresst wird? Vor drei Tagen habe ich gepostet, wie Mercedes und BMW mit Hilfe unserer Kanzlerin die EU erpresst haben. Tausende von Lobbyisten erpressen tagtäglich den Staat; die Superreichen und die Konzerne er-
pressen den Staat und damit uns alle, wenn sie mit Standortverlegung drohen, – und jetzt versu-
chen die Ärmsten der Armen mit dem Einsatz ihres Lebens etwas würdigere Bedingungen heraus-
zuschlagen – und plötzlich fällt diesen Damen und Herren Kommentatoren auf, dass der Staat nicht erpresst werden darf. Na klar, die Armen haben sich ihre Almosen hierzulande, wenn schon, dann gefälligst durch Demut zu verdienen. Aber wehe, sie mucken auf. Ich jedenfalls steh’ zu den aufmüpfigen Armen, mein Herz haben sie erreicht. Sie sollen sich wehren wo und wie sie können, nicht demütig, sondern zu Recht selbstbewusst, sie sollen sich erheben gegen die brutale Erniedri-
gung und Ausbeutung der armen durch die reichen Länder, sie sollen uns die Augen öffnen über das Unrecht, das ihnen schon so lange geschieht. Und wir sollten sie unterstützen anstatt sie allein zu lassen. Von einer ‚kannibalischen Weltordnung’ spricht Jean Ziegler, von der ‚Massenvernich-
tung in der dritten Welt’. Jetzt haben wir die Chance, ein bisschen was davon wieder gut zu ma-
chen, wieder mal vertan. Natürlich wurde das Camp jetzt geräumt, um keine Verhungernden in der Innenstadt zu haben. Der Anblick könnte ja uns nicht Hungernde am Einkaufen hindern. Empört euch! Solidarisiert euch!“8

Am Dienstag, 20. August, startet ein Protestmarsch von Asylsuchenden aus dem Iran, Irak, Äthio-
pien, Algerien und Afghanistan von Würzburg und Bayreuth aus nach München. Sie fordern unter anderem das Ende der Residenzpflicht. Freising, Sonntag, 1. September: Rund 140 Polizisten er-
warten den Flüchtlingszug von 47 Menschen um 11.15 Uhr an der Ismaninger Straße im Freisinger Stadtteil Lerchenfeld. Weil sich die Asylsuchenden und ihre UnterstützerInnen weigern, ihre Per-
sonalien feststellen zu lassen, greifen die Beamten schließlich brutal durch.9 Innenminister Joachim Herrmann bezeichnet den Flüchtlingsmarsch als „Wahlkampfspektakel“.

Am Montag, 2. September, machen um 16 Uhr über 50 der aus Würzburg aufgebrochenen Non-
Citizens und UnterstützerInnen an der Kreuzung Dachauer Straße/Kristallstraße kurz halt. Sie befürchten einen Polizeieinsatz, da auf den Schrederwiesen über ein Dutzend Polizeifahrzeuge stehen. Die Gruppe betritt aber dann auf der Straße „Auf den Schrederwiesen“ die Brücke, die
über die Autobahn führt. Dort wird sie nach 17 Uhr von etwa 200 Polizeibeamten eingekesselt, die Flüchtlinge haken sich ein, eine Person nach der anderen wird herausgezerrt, es hagelt Schläge und Tritte, UnterstützerInnen und Asylsuchende werden festgenommen. Festnahmen und Transporte dauern bis in die Nacht. Am Vormittag des 3. September, Dienstag, laufen 24 Non-Citizens und 45 UnterstützerInnen auf der Feldmochinger Straße/Lerchenauer Straße/Frankfurter Ring/Leopold-
straße/Kunstakademie Richtung Innenstadt. Kurz nach 15 Uhr betritt die Gruppe das Gewerk-
schaftshaus in der Schwanthalerstraße 64. Um 19.45 Uhr beginnt eine Demonstration an der Münchner Freiheit. Vorläufig finden die Non-Citizens für diese Nacht eine Unterkunft im Gewerk-
schaftshaus.10

Am Donnerstag, 5. September, sind die Flüchtlinge auf die Angebote des DGB nicht eingegangen. Der DGB hat ihnen 15 Doppelzimmer in verschiedenen Hotels in der Schwanthalerstraße oder in der Zeltstadt „The Tent“ angeboten, ein Jugendübernachtungscamp des Kreisjugendrings nördlich des Schlossparks Nymphenburg. Beide Übernachtungsangebote würde der DGB finanzieren, außerdem würden DGB-Mitarbeiter die Asylbewerber dorthin begleiten. Die Flüchtlinge selbst erklären, das DGB-Haus aber erst zu verlassen, wenn ihre Forderungen erfüllt seien. Andererseits ist ihnen aber auch klar, dass sie nicht ewig im Gewerkschaftshaus bleiben können. Die Flüchtlinge befinden sich seit Dienstagnacht im DGB-Haus. Sie wollen das Gebäude erst am 15. September, dem Tag der Landtagswahl, räumen. Schließlich lehnt der DGB die Forderungen der Flüchtlinge ab. Am Freitag, 6. September, sichert der DGB den 45 Flüchtlingen und ihren Unterstützern zu, dass sie das Wochenende über noch im Gewerkschaftshaus bleiben können, dann sollen sie das Haus verlassen. Innerhalb der Gewerkschaften wird über das weitere Vorgehen heftig gestritten.

Am Samstag, 7. September, demonstrieren fünf Vertreter der rechtsgerichteten Pro Deutschland unter dem Motto „Solidarität mit dem DGB: Scheinasylanten raus“ an der Ecke Schwanthalerstra-
ße/St.-Paul-Straße, rund 100 Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt. Sie tragen eine Rautenfahne mit dem bayrischen Wappen, auf Tafeln steht „Asylmissbrauch stoppen“ und „Gesetze gelten auch für Asylanten“. Etwa 70 UnterstützerInnen der Asylsuchenden stehen vor dem EineWeltHaus den Rechten gegenüber. Lautstark verhindern sie, dass die Parolen der Rechten, die sich nach einer Stunde verziehen, zu hören sind. Ursprünglich sollte ihre Demo drei Stunden dauern.

Am gleichen Tag demonstriert um 14 Uhr der DGB, stoersender.tv und das Bündnis München Sozial unter dem Motto „UmFAIRteilen. Wir haben ein Recht auf gute Arbeit, sichere Renten und ein soziales Europa!“ Die Demo beginnt um 14.00 Uhr auf dem Max-Joseph-Platz an der Oper. Es treten vor etwa 1.000 Demonstranten Urban Priol, Ludo Vici, Ecco Meineke und fast „Angela Merkel“ auf. Neben dem Podium ist ein großes Transparent mit der Aufschrift „Flüchtlinge Will-
kommen“ zu sehen. Der anschließende Demonstrationszug zieht durch die Maximiliansstraße zur Maximiliansbrücke. Hier auf der Abschlusskundgebung sprechen Simone Burger, Vorsitzende des DGB München, und Matthias Jena, Vorsitzender des DGB Bayern. Ihre Reden werden immer wieder von Sprechchören „Lasst die Flüchtlinge reden“ unterbrochen. Schließlich gibt ein weiterer Redner seine Redezeit an den Sprecher der Flüchtlinge ab. Dieser meint: “Wir sind Non-Citizens. Das heißt, wir haben in diesem Staat keine bürgerlichen Rechte. Wir erleben tägliche Drohungen von Behörden, vor unseren Lagern sind wir von faschistischen und rassistischen Angriffen be-
droht, wie vor 20 Jahren in Rostock und heute in Berlin-Hellersdorf und gerade vor DGB Haus. Wir dürfen uns nicht frei bewegen. Wir wurden in die Non-Citizen-Lager verdammt. Unser Essen wird willkürlich von Oben bestimmt. Das Recht auf Arbeit wird uns verweigert. Täglich leben wir in der Angst vor Abschiebung in ein Land, das uns kein gutes Leben bieten kann. Unsere Asylan-
träge werden auf die lange Bank geschoben, nur um am Ende abgelehnt zu werden. Selbst das Recht auf freie Meinungsäußerung wird uns vom bayerischen Innenministerium abgesprochen. Deshalb fordern wir: Sofortiges Ende aller Abschiebungen, Anerkennung unserer Asylanträge, Ab-
schaffung der Residenzpflicht und Schließung der Non-Citizen-Lager.” Im Anschluss tritt Konstan-
tin Wecker auf. Er meint, dies sei keine SPD-Veranstaltung, solidarisiert sich mit den protestieren-
den Sympathisanten der Flüchtlinge und singt so grandios, dass er stürmischen Applaus erntet.11

Am Mittwoch, 11. September beginnt der Freedom March um 12.00 Uhr mittags am DGB-Haus. Er geht durch München, um dann wieder am DGB-Haus anzukommen. Im DGB kommt eine Flut von Briefen und E-Mais an. Neben ablehnenden und rechtspopulistischen finden sich auch positive Stimmen.12 Nach vielen Gesprächen wird deutlich: Die Flüchtlinge, die sich seit einer Woche im Gewerkschaftshaus in der Schwanthalerstraße aufhalten, dürfen bis Sonntag 15. September, blei-
ben.

Auf dem Gelände der Bayernkaserne sind 1.400 Asylsuchende untergebracht. 25 Jugendliche aus Somalia fordern die Einstellung von Essenspaketen, die Ausgabe von Bargeld und schnellere Asyl-
verfahren. Am Freitag, 22. November, brechen sie nach einem Krisengespräch mit VertreterInnen des Stadtjugendamts, des Bundesamts für Migration, der Regierung von Oberbayern und der Inneren Mission ihren Hungerstreik ab. Die Jugendlichen vom Haus 58 werden, sobald Plätze
frei sind, in Jugendhilfeeinrichtungen kommen.

Am 2. Oktober findet im Feierwerk in der Hansastraße das „rage against abschiebung“ statt mit ESTHER BEJARANO & MICROPHONE MAFIA (HipHop | Kölle & Hamburg), PETULA (Gitarre, Kimpern, Flirren | Berlin), BEISSPONY (Halb Band, halb Performance | München), IRA ATARI (Deepness & Fun | Maintown) und KREISKY aus Wien.

Am 3. Oktober sinkt vor der Küste der Insel Lampedusa ein mit etwa 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea beladener 20 Meter langer Kutter, der aus der libyschen Hafenstadt Misrata kommt. 366 Menschen ertrinken, nur 155 werden gerettet. Kritische Zeitgenossen konstatieren bei der herrschenden Politik Krokodilstränen. Tatsächlich erlaube kapitalistische Ökonomie nichts ande-
res als die Ausbeutung von Ressourcen und die Eroberung von Absatzmärkten für eigene Waren; Flüchtlingsströme sind hier mit einkalkuliert.13

Täglich sterben Menschen bei dem Versuch, vor Elend und Verfolgung nach Europa zu fliehen.
Die Medien bezeichnen Schiffsunglücke mit toten Flüchtlingen immer noch als unveränderliche Tragödie. Aber das ist und bleibt sie nur, wenn man die inhumanen europäischen Einreisebestim-
mungen für unveränderbar hält. Am Samstag, 26. Oktober, demonstrieren ab 15 Uhr Flüchtlinge und ihre UnterstützerInnen — es sind etwa 1.000 Leute — vom Münchner Hauptbahnhof aus durch die Stadt.14

Acht senegalesische Asylsuchende aus Böbrach im Bayrischen Wald protestieren seit dem 31. Ok-
tober, Donnerstag, nach einer Veranstaltung im EineWeltHaus gemeinsam mit Unterstützern vor dem Sozialministerium in der Winzererstraße. Ihr Lager liegt mitten im Wald; sie sind dort völlig isoliert. Jetzt haben sie gegen die Residenzpflicht verstoßen. Aber ihre Situation ist unerträglich. Zunächst wollen sie bis Montag, 4. November, vor dem Ministerium ausharren. Nachdem ihr Pro-
test keine Wirkung zeigt, treten einige von ihnen in den Hungerstreik. Schließlich kommt es zu Verhandlungen an einem „runden Tisch“. Am Freitag, 22. November, kehren die letzten Asylsu-
chenden nach Böbrach zurück.

Seit 2000 dürften etwa 23.000 Flüchtlinge an der EU-Außengrenze im Mittelmeer ertrunken sein. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl nehmen andere Länder der Europäischen Union mehr Asylsu-
chende auf als Deutschland. Bei uns kommen auf eine Million Einwohner 1.575 Asylsuchende, in Ungarn sind es 1.905, in Österreich 2.070, in Norwegen 2.360 und in Schweden 5.860. 2013 wer-
den in der EU 435.000 Asylsuchende gezählt.

(zuletzt geändert am 22.1.2020)


1 Siehe www.karawane-muenchen.org.

2 Siehe „Ein Schrei der Revolte“.

3 Siehe „Qatar Airways führt Abschiebungen nach Afghanistan durch“.

4 Siehe die Erklärungen der Non-Citizens auf www.refugeetentaction.net.

5 Siehe die Erklärungen der hungerstreikenden Asylsuchenden am Rindermarkt in München auf www.refugeetentaction.net; siehe www.fluechtlingsrat-bayern.de/ und Fotos vom „camp der non-citizens“, aufgenommen am Freitag, 28. Juni zwischen 18 und 19 Uhr von Franz Gans.

6 Siehe „Räumung des Rindermarkts“ von Wolfgang Blaschka und www.kritisches-netzwerk.de/forum/die-verdammten-dieser-erde-raeumung-des-muenchner-rindermarkts. Niklas Hoffmann, Nina Wesemann und Alexandra Wesolowski zeigen in ihrem während der Ereignisse gedrehten Film „First Class Asylum“ diese Demonstration der Verzweiflung. Trailer unter: www.dokfest-muenchen.de/filme_view_web.php?fid=6936. Siehe auch „Bedrohlicher Anschlag auf den Rechtsstaat erfolgreich abgewehrt“ in Gegenargumente 36/2014, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/hungerstreikende-asylbewerber-muenchen.

7 Siehe „Klarstellungen der Öffentlichkeit zum verhältnis von Politik und Moral“ in Gegenargumente 36/2014, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/papst-prangert-indolenz-welt-gegenueber-fluechtlingselend-an.

8 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung. Siehe die Fotos von der Kundgebung „kein mensch ist illegal“ von Friedbert Mühldorfer und Franz Gans.

9 Siehe www.linksunten.indymedia.org/de/node/94096.

10 Siehe www.proasyl.de/de/news/detail/news/drei_fluechtlinge_im_krankenhaus_massiver_polizeieinsatz_gegen_protestmarsch_in_bayern/ und www.refugeestruggle.org/.

11 Siehe die Fotos von der Kundgebung und Demonstration „umfairteilen“ am 7. September von Franz Gans.

12 Siehe den Briefwechsel „Flüchtlinge“ von Peter Weismann und Mathias Jena.

13 Siehe „Eine notwendige Tragödie“ in Gegenargumente 35/2014, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/fluechtlingskatastrophe-lampedusa.

14 Siehe die Bilder der Demonstration „lampedusa ist überall“ vom 26. Oktober von Christoph Klinke. Siehe www.refugeestruggle.org, www.lampedusa.karawane-muenchen.org und www.fluechtlingsrat-bayern.de/

Überraschung

Jahr: 2013
Bereich: Flüchtlinge