Flusslandschaft 2015
Bürgerrechte
Seit Anfang Februar erfolgen bis Anfang April 14 Festnahmen von Jugendlichen, die blaue Blusen tragen und das Symbol der Freien Deutschen Jugend (FDJ), eine gelbe aufgehende Sonne auf blauem Grund, zeigen. Beamte des Kommissariats 43 der Kriminalpolizei durchsuchen am 13. März gegen 6.30 Uhr in der Frühe zeitgleich eine Privatwohnung und eine Geschäftsadresse in München. Über 2,5 Stunden werden nicht nur das vom Beschuldigten bewohnte Zimmer und die Gemeinschaftsräume und jedes einzelne Blatt Papier auf einen vermeintlichen Bezug zur FDJ geprüft, sondern widerrechtlich und ohne Beschluss auch ein zweites, von einer unbeteiligten Person bewohntes Zimmer. Beschlagnahmt werden ein Laptop, ein Handy, SD-Karten, diverse Zeitschriften, Flugblätter, Aufkleber und andere Materialien, die laut Beschluss „Aufschluss darüber geben [sollen], wer am 10.12., 16.12. und 17.12. Flugblätter mit dem Emblem der Freien Deutschen Jugend an Münchner Schulen verteilt hat“. Bei dem zweiten Objekt handelte es sich
um das „Haus mit der Roten Fahne“ im Münchner Westend, in welchem die FDJ zwar über eine Postadresse verfügt, nicht aber über Räumlichkeiten. Dass der Durchsuchungsbeschluss lediglich „die Räume der Organisation Freie Deutsche Jugend“ umfasst, kümmert die ausführenden Beamten indes wenig. Sie nehmen widerrechtlich einen Teil des Gebäudes in Augenschein. Nach eigener Aussage wären sie auch ohne Zeugen mit Hilfe eines Schlüsseldienstes in das Objekt eingedrungen, wäre ihnen nicht geöffnet worden. Beschlagnahmt werden Aufkleber, Zeitschriften und Flugblätter mit dem Emblem der FDJ. Nach dem Einigungsvertrag von 1990 mit der DDR wurden auch alle in der DDR existierenden Vereinigungen „angeschlossen“. Damit ist auch die FDJ in der BRD nicht (mehr) verboten. In diesem Sinne urteilte zuletzt das Amtsgericht Berlin-Tiergarten im April 2014 und so urteilte bereits 1991 das Amtsgericht München in politischen Prozessen gegen FDJ-Mitglieder.1
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Das Verbot des Umgangs mit Cannabis wird heute landläufig mit „historischen und gesellschaft-
lichen Gründen“ legitimiert. Alkohol und Tabak seien dagegen in unserer Kultur akzeptiert. 1957 hat das Bundesverfassungsgericht mit einer ähnlichen Begründung die Bestrafung von Homose-
xualität legitimiert, da diese „gegen das Sittengesetz“ verstoße. 1973 wurde dieses Urteil teilweise, 1994 endgültig revidiert. Die Zeiten ändern sich und „historische und gesellschaftliche Gründe“ fallen weg. Die Demonstranten weisen darauf hin, dass der „gesellschaftlich akzeptierte“ Konsum von Alkohol weit bedenklicher ist als der für viele Menschen unbedenkliche Konsum von Cannabis. „Schluss mit der herrschenden Doppelmoral!“ Etwa hundert Menschen demonstrieren. Mitten drin eine überdinensionale Tüte. Auf Plakaten steht „Recht auf Rausch“.
Am 31. Mai stirbt Rechtsanwalt Konrad Kittl. Nicht wenige hat er ohne Honorar vor Gericht vertei-
digt.3
Im Sommer wird bekannt, dass im polizeilichen Kriminalaktennachweis (KAN) mehr als 1,6 Millio-
nen Personendaten gespeichert sind. Da will Rechtsanwalt Gerd Tersteegen wissen, ob es dort auch über ihn einen Eintrag gibt. Und tatsächlich: Es finden sich sogar zwei Vermerke über teils absur-
de, teils falsche Vorwürfe. Die Polizei dazu: „Eine unaufgeklärte Straftat bzw. ein aus polizeilicher Sicht bestehender Tatverdacht genüge für Einträge.“ „Es ist nicht einmal ansatzweise zu erkennen, welcher gesetzliche Rechtfertigungsgrund für eine weitere Speicherung hier vorliegen soll“, klagt Tersteegen deshalb vor dem Verwaltungsgericht München. Die Münchner Polizei wartet aber den Urteilsspruch gar nicht erst ab, sondern erklärt, die Einträge gelöscht zu haben.
Am Samstag, 10. Oktober findet um 13.30 Uhr auf dem Max-Josephs-Platz eine Kundgebung und anschließende Demonstration gegen Überwachung im Rahmen der „Freiheit statt Angst Tour 2015“ in München statt. Die Forderungen lauten,
‖ Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und europaweit verbieten,
‖ keine pauschale Registrierung aller Reisenden (PNR-Daten, Maut),
‖ keine Informationsweitergabe an andere Staaten,
‖ vollständige Aufklärung im Skandal um BND und NSA,
‖ Schutz vor Überwachung durch ausländische Geheimdienste,
‖ Asyl und sicheren Aufenthalt für Whistleblower,
‖ keine geheime Durchsuchung von Endgeräten, weder online noch offline,
‖ keine Überwachung und Filterung von Internet-Kommunikation,
‖ Abschaffung der Erhebung biometrischer Daten, sowie von RFID-Ausweisdokumenten,
‖ elektronische Krankenkarte und eHealth stoppen,
‖ Förderung von Ende zu Ende Verschlüsselung auf Basis Freier Software,
‖ offene Schnittstellen für Kommunikationsplattformen festlegen,
‖ Dezentralität fördern,
‖ eine starke europäische Datenschutzgrundverordnung und
‖ kein Datenhandel durch TTIP, TISA, CETA & Co.
Die Demo geht dann ab 14.30 Uhr an der Staatskanzlei vorbei über die amerikanische Botschaft und die Ludwigstraße zum Odeonsplatz. Dort ist um 15 Uhr die Abschlusskundgebung.4
„Wir schicken den Verfassungsschutz in Rente!“ Unter diesem Motto plant die Humanistische Union (HU) für den 31. Oktober eine Aktion in der Münchner Innenstadt. Anlässlich des 65. Geburtstags des BfV erhält der Inlandsgeheimdienst von den Bürgerrechtlern einen demokrati-
schen Rentenbescheid. Im Rahmen der Kampagne “ausgeschnüffelt” setzt sich die HU für die Abschaffung des deutschen Inlandsgeheimdiensts ein. Der HU-Bundesvorsitzende Werner Koep-
Kerstin listet im Rentenbescheid einige Gründe dafür auf, warum die Frühpensionierung der Kölner Schlapphüte zum Schutz der Verfassung dringend geboten ist. Die Aktion findet von
13.45 Uhr bis 14.15 Uhr auf dem Bürgersteig vor dem Hotel Königshof am Stachus statt.5
Die Anwältin und Richterin Angelika Lex erhält am Dienstag, 10. November, für ihr Engagement in der Flüchtlings- und Migrationspolitik sowie für ihr Eintreten für Bürgerrechte und gegen Rassis-
mus und Neonazismus den Georg-Elser-Preis 2015 der Landeshauptstadt München. Die Jury: „Als Anwältin setzt sich Angelika Lex seit Jahrzehnten für die persönlichen Belange von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten ein sowie strukturell gegen ein rigides Asyl- und Ausländerrecht. Sie verteidigt vor Gericht stehende Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen immer wiederkehrende Versuche, das politische Engagement mittels geltenden Rechts zu diskreditieren und die Einzelnen zu kriminalisieren. Aktuell vertritt sie als Nebenklägeranwältin die Witwe eines Opfers des so ge-
nannten ‘Nationalsozialistischen Untergrunds’ beim NSU-Prozess in München. Dabei geht es ihr nicht nur um die Verurteilung der mutmaßlichen Mit-Haupttäterin und ihrer mutmaßlichen Un-
terstützer, sondern auch um die Offenlegung des neonazistischen Netzwerkes und die Rolle der Behörden. Nicht zuletzt ist sie seit mehr als 10 Jahren Richterin am Bayerischen Verfassungsge-
richtshof. Angelika Lex ist auch außerhalb der Gerichtssäle engagiert. Früher in der Initiative Baye-
rischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger sowie aktuell im Republikanischen Anwaltsver-
ein, beides politische Anwaltsorganisationen, die sich als Teil der Bürgerrechtsbewegung verste-
hen. Mit ihrer Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Fachveranstaltungen, mit ihren Auftritten als Rednerin auf Kundgebungen und Demonstrationen macht sie sich immer wieder stark gegen staatliche Repression, polizeiliches Fehlverhalten, für demokratische Grundrechte und Widerstand gegen Rassismus und Neonazismus. Mit diesem Engagement macht sich Angelika Lex nicht nur Freunde. Mehrfach erschienen auf extrem rechten Internetseiten Schmähartikel über sie. Im Mai 2013 war ihre Kanzlei, neben dem Bayerischen Flüchtlingsrat und einem alternativen Wohnprojekt im Münchner Westend, Ziel eines neonazistischen Anschlags. Doch von solchen Einschüchterungs-
versuchen lässt sich die Rechtsanwältin nicht beeindrucken. Angelika Lex zeigt in vorbildlicher Weise Zivilcourage und setzt sich engagiert für den Erhalt demokratischer Errungenschaften ein. Durch ihr öffentliches Wirken und Auftreten übernimmt sie beispielhaft gesellschaftliche Verant-
wortung.“6 – Am 23. Dezember wird Angelika Lex auf dem Ostfriedhof beerdigt. Es sind Hunder-
te, die sie auf dem letzten Weg begleiten.7
(zuletzt geändert am 29.5.2019)
1 Siehe www.okv-ev.de/Dokumente/…/Bericht_FDJ-Muenchen_14.03.15.pdf ### www.preiselbauer.de/2015/02/05/bagida-in-muenchen-am-2-2-15-nachtrag-repressalien-gegen-fdj/ ### www.rote-hilfe.de/77-news/616-muenchen-die-freie-deutsche-jugend-fdj-im-fokus-staatlicher-repression ### https://linksunten.indymedia.org/de/node/136096 sowie www.k-p-d.org/index.php/aktuell/inland/335-bericht-ueber-die-repressionen-gegenueber-der-fdj-in-muenchen.
2 Fotos: Franz Gans
3 Siehe die „Trauerrede für Konrad Kittl“ von Günther Gerstenberg.
4 Siehe www.fsamuenchen.de/ und „Stalking für Fortgeschrittene“ von Felicitas Hübner.
5 Siehe www.suedbayern.humanistische-union.de, „verfassungsschutz in rente“ von Günther Gerstenberg und „Verabschiedung des BfV in den Ruhestand“ von Werner Koep-Kerstin.
6 Siehe „Laudatio zur Verleihung des Georg-Elser-Preises an Angelika Lex“ von Bernd Kastner und „Rede von Angelika Lex bei der Überreichung des Georg-Elser-Preises“.
7 Siehe die „Trauerrede für Angelika Lex“ von Siegfried Benker und einige Bilder der Beerdigung vom „23. dezember“ von Günther Gerstenberg.