Flusslandschaft 1972

Stadtviertel

Proteste gegen die „Abrisspolitik“ des Stadtrats konzentrieren sich vor allem auf das Lehel. Es finden sich prominente Unterstützer.1

Zwölf Bürgerinitiativen bekämpfen das geplante Europäische Patentamt (EPA) in der Erhardt-
straße. Es sollen dreiunddreißig Wohnhäuser mit eintausendzweihundertfünfzig Bewohnern weichen. Das 1968 von der Stadt gegründete Münchner Forum, ein Zusammenschluss der IHK, der Handwerkskammer, der Münchner Zeitungsverlage, des DGB, einiger Uni-Lehrstühle, mehrerer Fachverbände und des Münchner Bauforums, rechnet am 24. April vor, dass der Standort Erhardtstraße 336,65 Millionen DM, der alternative Standort Berliner Straße 285 Millionen DM kosten würde.

„Im Rahmen der Auseinandersetzung um den Standort des EPA ließ sich auch ‚Radio Bundschuh’, der erste Münchner Piratensender hören. In der Baaderstraße wurde plötzlich das normale ARD-
Programm unterbrochen. ‚Hier ist Radio Bundschuh, eine Stimme im Kampf gegen das Patent-
amt’, meldete sich der Schwarzsender: ‚Wenn das EPA in diesem Viertel gebaut wird, werden wir auf die Barrikaden gehen. Da ist wahrscheinlich jemand mit Unsummen bestochen worden. Wenn uns die Verantwortlichen nicht glauben, werden unsere Barrikaden und Sabotage sie überzeugen. Sie hörten Radio Bundschuh, wir werden uns wieder melden.’ (Abendzeitung vom 28. Februar 1972) Aber nicht nur der Piratensender aus dem Untergrund fühlt sich betrogen, sondern auch ge-
mäßigteren Bürgern stößt manches auf. Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Januar 1972: ‚Protest-
song im Frack – Mitglieder der Münchner Philharmonie und des Bachkonsortiums singen gegen die Wohnungspolitik des Stadtrats (insbesondere gegen den Bau des EPA im Museumsviertel) auf dem Marienplatz nach der Melodie des Chorals: Wachet auf, ruft uns die Stimme…’ Im Januar 1973 wird die Erhardtstraße im Stadtrat endgültig bekräftigt (44 : 34 Stimmen). Um nicht den Eindruck zu erwecken, des Bürgers Meinung würde zählen, rief Oberbürgermeister Kronawitter die seit neun Jahren erste Bürgerversammlung des Museums-Gärtnerplatzviertels erst danach, nämlich für den 5. Februar ein. Dem Bürger sollte Gelegenheit gegeben werden, Ängste und Be-
denken zu äußern. Nach einigem juristischen Wirbel um den Bebauungsplan wurde am 20. No-
vember 1974 der EPA-Bebauungsplan vom Stadtrat kommentarlos verabschiedet. 1976 began-
nen die europäischen Bauarbeiten an der Erhardtstraße.“2

Im Januar findet ein erstes gemeinsames Wochenende der Aktion Maxvorstadt auf einem Bau-
ernhof statt. Die Anwesenden diskutieren Bodenrecht, Kommunalwahl 1972 und planen die He-
rausgabe einer Stadtteilzeitung. – Nachdem es in der Maxvorstadt seit Jahren keine Bürgerver-
sammlung gegeben hat und alle Mahnungen an die Stadtoberen verhallen, erhebt die Aktion Maxvorstadt am 22. Februar eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Oberbürgermeister Vogel.3 Am Tag danach beantragt die Bürgerinitiative beim bayrischen Landtag eine Änderung des Artikels 18 der bayrischen Gemeindeordnung (Einberufung von Bürgerversammlungen). Anfang April er-
scheint die erste Nummer der „Maxvorstadt aktuell“. – Am 19. April kommt es zu einem Prozess gegen einen Hauseigentümer in der Amalienstraße. – Am 3. Mai übernimmt in der Bürgerinitiative zum ersten Mal eine Frau die Gesprächsleitung. – Das Stadtteilfest vom 4. Juni bietet eine Voraus-
setzung, damit die Bürgerinitiative auf breite Beine gestellt wird. Migranten treffen hier auf Einhei-
mische, Mitglieder unterschiedlicher Parteien kommen ins Gespräch …4 – 11. Juni: Stadtratswahl. In der Nummer 2 der „Maxvorstadt aktuell“ vom Mai haben Stadtratskandidaten Stellung bezogen, die Nummer 3 vom Juni hat aufgrund der Befragung der Kandidaten Wahlempfehlungen ausge-
sprochen und dies schlägt sich nun in den Wahlergebnissen nieder. – Im Juni kommt es zu einer heftigen Diskussion. Soll sich die Bürgerinitiative zu einem eingetragenen Verein (e.V.) umwidmen oder nicht. Vorteile und Nachteile werden angeführt. – 28. Juni: Flugblattaktion anlässlich der 500-Jahre-Feier der Ludwig-Maximilians-Universität.

Haidhausen: „… Im Jahr 1972 wird klar erkennbar, welches Interesse viele Parteimitglieder der SPD und der DKP an der Bürgerinitiative Sanierung Haidhausen (BISH) haben. Durch die Mitar-
beit in der BISH erwarten sich die Parteivertreter Sympathie bei Wählerkreisen zu bekommen, die durch die bisherige Parteiarbeit nicht erzielt werden konnte. Bei Kandidatenvorstellung, in Flug-
blättern und Wahlkampfreden, weisen SPD- und DKP-Politiker auf ihre führende Arbeit in der Bürgerinitiative hin. Jürgen Vahlberg setzt sich gegen Dieter Lattmann, den Vorsitzenden des Ver-
bandes deutscher Schriftsteller als Bundestagskandidat vor allem deshalb durch, weil er als ‚Grün-
dungsmitglied der BI Haidhausen gegen Kündigungen und Mietervertreibungen in diesem Stadt-
teil protestierte’. Während die DKP für ihre BI-Arbeit keine Wahl-Lorbeeren erntet, dürfen R. Uhl und J. Vahlberg in den Stadtrat bzw. in den Bundestag einziehen. Da die Mehrheit der in der BISH mitarbeitenden Parteimitglieder in den Wahlkampf eingebunden ist, schrumpft die Zahl der Akti-
ven auf 10 – 12 Personen. Die BISH tritt neben einer kleinen Ausstellung nochmals im Juli 1972 mit einer Flugblattaktion in die Öffentlichkeit. Sie unterstützt die Forderungen junger Arbeiter, Lehrlinge und Schüler, die einige Wohnungen im Haus Trogerstraße 26 besetzt hatten, das Haus nicht der Spitzhacke durch das Klinikum Rechts-der-Isar zum Opfer fallen zu lassen …“5 Siehe dazu auch „Hausbesetzungen“.

31. Oktober: Demonstration gegen den Abbruch des Hackerkellers an der Theresienhöhe 4.6

In Bürgerinitiativen kommt es immer wieder zu Konflikten. Hier können sich in den oft quälend langen Sitzungen Gschaflhuber aufmandeln. Hier finden Revierkämpfe statt. Parteipolitiker den-
ken zuerst an ihre Partei und die damit verbundene Karriere, und Profilierungsbemühungen gehen auf Kosten von BI-Mitgliedern. Moderatoren sind gesucht.7 Bürgerinitiativen sind nicht nur eine tolle Sache. Vor allem, wenn man überlegt, dass es in erster Linie gebildete, besser situierte und wendige Mitbürgerinnen und Mitbürger sind, die IHRE Interessen vertreten.8


1 Siehe „Philharmonischer Protestchoral“ und „Die Wurzel des ganzen Übels …“ von Hans-Jochen Vogel.

2 Stadtbuch für München 1978/79, München 1978, 105 f. Siehe „Europäisches Patentamt“. Siehe Kristina und Andreas Hartle: „Das Europäische Patentamt in München – ein krasser Fall der politischen Krise der Stadtplanung“ in tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 82 vom April/Mai 1972, 7 ff.

3 Siehe „aktion maxvorstadt“.

4 Siehe „Fest statt Protest“ von Cornelia Jacobsen.

5 Haidhauser Nachrichten. Monatszeitung für den Münchner Osten 3 vom März 1981, 7.

6 Vgl. Süddeutsche Zeitung 252/1972.

7 Siehe „Liebe Maxvorstädter“ von Ralf Dantscher.

8 Siehe „Mein Gott, was soll aus Hösel werden?“.