Flusslandschaft 2020

Rechtsextremismus

„Ich fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“ Theodor W. Adorno

Heinz Meyer, Pegida-Aktivist und Spitzenkandidat der „Bürgerinitiative Ausländerstopp“ (BIA) meldet für den 24. Januar, 16 Uhr, eine Kundgebung auf dem St. Jakobs-Platz an. Thema: „Be-
schneidung von Kindern und Säuglingen verbieten“. Dagegen protestiert München ist bunt. Nun mag mancher aufgeklärte Zeitgenosse durchaus der Meinung sein, dass archaische Initiationsriten, die mit der Körperverletzung von Kindern, die sich nicht wehren können, verbunden sind, nicht in moderne Gesellschaften passen. An diese Überzeugung knüpft die Aktion Meyers jetzt listig an und versucht über den Appell an die freigeistigen Vernunft antisemitische Ressentiments zu säen. Man-
che erkennen: Beschneidung ist nicht in Ordnung, Kritik an Beschneidung, die Antisemitismus be-
fördert, ist unerträglich. — Schon auf dem Marienplatz protestieren Antifaschist*innen. Meyer und seine Leute bekamen die Auflage, ihre Kundgebung abseits des Jakobs-Platzes zu veranstalten. Sie sind nirgends zu entdecken. Auf dem Platz selbst sind etwa 500 Menschen versammelt, die gegen Antisemitismus demonstrieren.1

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Aufkleber auf einem Masten an der Amper bei Olching

Am 5. Februar, ein Donnerstag, wird in Thüringen ein FDP-Politiker mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaats gewählt. Die Münchner CSU begrüßt die Wahl, der bayri-
sche Ministerpräsident verurteilt sie. Daraufhin protestieren München ist bunt, der Bayerische Flüchtlingsrat, der DGB und das Nord Süd Forum München e.V. am 6. Februar um 17.45 Uhr vor der FDP-Zentrale in der Goethestraße 17. Vor 300 Menschen sprechen Charlotte Knobloch (IKG), Peter Probst, Judith Greil (KJR) und Simone Burger (DGB). Auf einem Schild ist „CDU/FDP/AfD: Pack schlägt sich – Pack verträgt sich“ zu lesen.

Am Sonntag, 9. Februar, verteilen fünf Rechtsextreme zwischen 11 und 21 Uhr Flugblätter auf dem Stachus. Etwa 20 Antifaschisten protestieren dagegen. Etwa um 14 Uhr wird die Auseinanderset-
zung physisch. Ein Münchner schlägt einen Rechten und wird daraufhin wegen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung angezeigt. Eine Antifaschistin bekommt eine Anzeige wegen verbaler Beleidigung.

In Hanau erschießt am Mittwoch, 19. Februar, ein 43-jähriger Deutscher im hessischen Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Das Kurdische Gesellschaftszentrum München e.V., das Bündnis gegen Naziterror und das Netzwerk Rassismus- & Diskriminierungsfreies Bayern e.V. rufen für den 20. Februar zu einer Mahnwache auf dem Odeonsplatz um 19 Uhr auf. Über Tausend Menschen nehmen teil: „Wir trauern! Yas tutuyoruz! Em xemgîn in!“

Schlag 12 Uhr mittags hängt am Sonntag, 1. März, ein großes Transparent von der Brüstung ober-
halb der Uhr am Rathausturm: „Nazis stoppen!“


Unter dem Eindruck der rechtsextremen Attentate der jüngsten Vergangenheit ruft das Bellevue di Monaco zusammen mit Lichterkette e.V., München ist bunt, Ausgehetzt und vielen anderen sowie mit Unterstützer*innen aus der Kulturszene wie Gerhard Polt, den Wellbrüdern aus dem Bier-
moos, Maxi Schafroth, Stefan Zinner und Simon Pearce zu einer Kundgebung am Freitag, 6. März, um 16 Uhr auf. Ministerpräsident Söder soll auch sprechen. Das ruft Proteste hervor.3 Schließlich versammeln sich 7.000 Menschen auf dem Max-Joseph-Platz.4

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In der ersten März-Woche in der Sendlinger Straße auf der Höhe vom Konen



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Am 15. März finden Kommunalwahlen statt. Plakate an der Bodenseestraße in Neuaubing


Am 21. März 1960 wurde eine friedliche Demonstration in Sharpeville (Südafrika) als Reaktion auf ein rassistisches Gesetz des Apartheid-Regimes blutig niedergeschlagen. Dies hat 69 Menschen das Leben gekostet. Als Gedenktag wurde sechs Jahre später, 1966, der 21. März von den Vereinten Nationen zum »Internationalen Tag zur Überwindung von rassistischer Diskriminierung« ausge-
rufen. 60 Jahre danach nehmen Rassismus und Nationalismus wieder zu. Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern (NRDB) die Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY), Der DGB und ver.di rufen zur Demonstration am 21. März auf, die Demo wird wegen der Corona-Pandemie abgesagt.

Der bayrische Verfassungsschutzbericht 2019 bezeichnet die VVN als linksextremistisch beein-
flusst. Dr. Harald Munding und Christian Viefhaus, Landessprecher der VVN-BdA Bayern, meinen dazu am 19. April: „… Um die Beobachtung der VVN-BdA durch den bayrischen Verfassungsschutz richtig einordnen zu können, lohnt die Lektüre des Berichtes 2019 allemal. Interessanter als das, was dort steht, ist allerdings das, was dort nicht steht. Rechtsextremismus-Experte Robert Andre-
asch äußert sich gegenüber dem BR enttäuscht: ‚Hier werden linke Hip-Hop Bands, die Vereini-
gung der Verfolgten des Naziregimes und Initiativen wie Ende Gelände auf die gleiche Ebene wie rechtsterroristische Netzwerke gestellt. Und hier wird nur das ausgeführt, was Expertinnen und Experten, Antifaschisten und Medien schon seit Jahren ausführlich thematisieren.‘ Oft noch nicht einmal das. Nicht im Fokus des bayrischen Verfassungsschutzes stehen etwa Organisationen wie Südkreuz, Nordkreuz oder Uniter, sowie rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden ganz allge-
mein. Im Verein ‚Uniter e.V.‘ organisieren sich ehemalige und aktive Soldaten und Polizisten aus Spezialeinheiten, es werden aber auch Zivilisten in Militärtaktik geschult. Gründer ist der ehemali-
ge KSK-Soldat André S., der unter dem Pseudonym ‚Hannibal‘ eine Vielzahl von Chatgruppen ad-
ministrierte, in denen sich Mitglieder von Bundeswehr, Polizei und Verfassungsschutz gemeinsam mit Gleichgesinnten auf den ‚Tag-X‘ vorbereiteten. Nicht wenige Mitglieder dieser Netzwerke ste-
hen unter Terrorverdacht. – Das bayrische Landesamt für Verfassungsschutz fällt wie andere deutschen Inlandsgeheimdienste immer wieder auf durch die Diffamierung zivilgesellschaftlich-demokratischen Engagements bei gleichzeitiger Verharmlosung rechtsextremistischer Umtriebe und Untätigkeit bei rechtsterroristischen Aktivitäten. So wurden ‚Reichsbürger‘ von den Behörden erst als rechtsextremes Phänomen wahrgenommen, nachdem in Georgensgmünd 2016 ein Polizist durch die Schüsse eines ‚Reichsbürgers‘ tödlich verletzt worden war. Die Mitglieder des NSU lebten dreizehn Jahre im Untergrund, ermordeten zehn Menschen (davon fünf in Bayern), überfielen ein Dutzend Banken und begangen mehrere Sprengstoffanschläge. Die V-Männer des Verfassungs-
schutzes hatten sie dabei stets im engsten Umfeld, Schulter an Schulter. ‚… dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebenso wenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten‘, wurde etwa von Antonia von der Behrens in ihrem Plädoyer vor dem OLG Mün-
chen herausgearbeitet. Wie andere Vertreter der Nebenklage im ‚NSU-Prozess‘ ist sie sich sicher, ‚dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht‘. Ein ungeheuerlicher Befund, an dessen Entkräftung man sich beim Inlandsgeheimdienst gar nicht erst abmühte. Axel Minrath, der Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz begann am 11.11.2011, unmittelbar nach dem Aufliegen des NSU damit, Akten mit NSU-Bezug zusammensuchen und vernichten zu lassen. – Trotz der öffentlich gewordenen Verstrickungen des ‚Verfassungsschutzes‘ in das mörderische neonazistische Netzwerk des NSU und der militanten Neonaziszene entzieht sich der Inlandsge-
heimdienst nach wie vor weitgehend der parlamentarischen und bürgerrechtlichen Kontrolle. Ein wirksamer Schutz der Demokratie gegen die Bedrohungen von Rechts ist nicht durch die Stärkung von Geheimdiensten zu haben, sondern nur durch eine wachsame, demokratische und antifaschi-
stische Zivilgesellschaft, deren anerkannter und oft geehrter Teil wir als Vereinigung der Verfolg-
ten des Naziregimes sind. Die Diffamierung unserer Organisation durch das bayrische Landesamt für Verfassungsschutz muss ein Ende haben. Antifaschismus ist gemeinnützig.“7

Der „III. Weg“ hat für den Ersten Mai um 14 Uhr eine Kundgebung auf dem Pasinger Bahnhofs-
platz angemeldet. Zwölf Rechten stehen 70 Gegendemonstranten gegenüber. Um 15.30 Uhr ist die Kundgebung beendet. Beim Abmarsch schlägt ein Rechter einem Gegendemonstranten ein Schild über den Kopf. Er wird wegen gefährlicher Körperverletzung angezeigt. Gegendemonstranten blockeren den Abmarsch der Rechten, daraufhin kommt es zum Polizeieinsatz mit Schieben, Drücken und dem Einsatz des Schlagstocks. „Dazu wurden während dieser Störungsphase Ver-
sammlungsteilnehmern mehrere Fahnen entrissen. Zwei Personen wurden wegen Raubes ange-
zeigt. Ein opponierender Teilnehmer wurde dazu wegen einer gefährlichen Körperverletzung an-
gezeigt, da er einen Polizeibeamten angriff und eine weitere Person aus den Reihen der Gegende-
monstranten wurde wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und einer versuchten Ge-
fangenenbefreiung angezeigt. Es waren insgesamt über 200 Beamte an dem Einsatz beteiligt. Das Kriminalfachdezernat 4 (Staatsschutz) hat die Ermittlungen zur Klärung aller strafrechtlich rele-
vanten Vorgänge im Zusammenhang mit der Versammlung aufgenommen.“8


Antifaschistinnen und Antifaschisten feiern am 8. Mai um 18 Uhr auf dem Marienplatz 75 Jahre Befreiung vom Faschismus. Um 19 Uhr betonen etwa zwanzig Mitglieder der Gruppe „III. Weg“ auf dem Stachus, dass das Kriegsende 1945 nicht Befreiung, sondern Niederlage war. Sie werden von über Hundert Polizisten beschützt, denn viele Antifaschist*innen sind vom Marienplatz hierher gezogen, um gegen Rechts zu protestieren.9

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Begegnung an der Ecke Steinsdorf-/Maximilianstraße am 22. Mai

Beim gemeinsamen Gedenken der DGB-Jugend und Landeshauptstadt München zum 40. Jahres-
tag des Oktoberfestattentats sprechen am 26. September, Samstag, der Bundespräsident und auch der bayrische Ministerpräsident. Daraufhin organisieren Gewerkschafter*innen eine Kundgebung ab 11.30 Uhr vor dem Gewerkschaftshaus. Sie erinnern daran: „Leitkultur“, Polizeiaufgabengesetz, Stimmungsmache gegen Einwanderer, menschenfeindliche Maßnahmen gegen Geflüchtete, Provo-
kationen gegen Hartz-IV-Betroffene, Entzug der Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/BdA – all das ist auch Markus Söder. Er verkörpert den Marsch nach rechts – in seinem Amt, in seiner Funktion als Parteivorsitzender der CSU, in seiner Person, und last but not least in seiner Funktion als potentieller Kanzlerkandidat der  CDU/CSU. Um 13 Uhr beginnt eine Demonstration auf dem Gollierplatz im Münchner Westend.11

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Mast einer Straßenlaterne in der Kaufingerstraße am Abend des 2. November


1 Siehe die Bilder der Kundgebung „gegen antisemitismus 1“ vom 24. Januar von Peter Brüning und „gegen antisemitismus 2“ vom 24. Januar von Günther Gerstenberg.

2 Foto: Cornelia Blomeyer

3 Siehe „Greift ein gegen Naziterror, staatlichen und alltäglichen Rassismus. Solidarität gegen rassistische Abschottung, Faschis­mus & Erdogans Krieg!“.

4 Siehe die Bilder der Kundgebung „just don’t do it“ vom 6. März von Peter Brüning.

5 Foto © Volker Derlath

6 Fotos: Cornelia Blomeyer

7 Zugeschickt am 21. April 2020.

8 Pressestelle des Polizeipräsidiums München

9 Siehe die Bilder der Kundgebung „tag der niederlage I“ vom 8. Mai von Peter Brüning und „tag der niederlage II“ von Günther Gerstenberg. Siehe auch „Gedenken“ 2020.

10 Foto: Franz Gans

11 Siehe https://40jahre.nonazis.net/.

12 Foto: Franz Gans

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Rechtsextremismus