Flusslandschaft 1974

Frauen

In der Gewürzmühlstraße 17 im Lehel wohnen von 1974 bis 1976 etwa zehn Frauen, die meisten von ihnen Intellektuelle, in der Wohngemeinschaft der Siemens-Frauengruppe. Sie arbeiten im Akkord in den Zweigwerken in der Balan- und in der Martinstraße, wo vor allem Türkinnen und Griechinnen einen Knochenjob mit miserablen Löhnen ableisten. Der Anspruch der Siemens-Frauengruppe geht weit über den rein feministischen Ansatz hinaus. Sie thematisieren auch Mi-
gration und Arbeitsverhältnisse. Da die Türkinnen und Griechinnen oft ihre Familien in ihrer Hei-
mat mit unterstützen, so dass der Monatslohn von etwa 800 Mark nicht ausreicht, gehen einige von ihnen auf den Strich. Die Siemens-Frauengruppe legt sich daher auch mit den Zuhältern an. – Eine Abtreibung kostet 1974 in einem Hinterhof etwa 500 Mark. Die Aktivistinnen gegen den § 218 stoßen bei der Siemens-Frauengruppe zuerst auf Ablehnung. Sie gelten als „bürgerlich“. Über die Sozialistische Frauenorganisation München (SFOM) stoßen sie auch zur Anti-§ 218-Bewegung. Eine enge Beziehung pflegt die Siemens-Frauengruppe zur Frauengruppe der Projektgruppe Tech-
nologie München
(PTM)1, deren Wohngemeinschaft am Max-Weber-Platz residiert, zur Frauen-
gruppe des Revolutionären Kampf (RK)2 in Frankfurt am Main und zu Brot und Rosen in Berlin (Marianne Herzog). – In der Zugspitzstraße entsteht schon bald ein autonomes Frauenzentrum, in dem vor allem Griechinnen und Türkinnen um Beistand ansuchen. — Am 15. Februar kommt es zur Besetzung des alten Spitals am Gasteig. Besonders aktiv sind bei dieser Aktion die Siemens-Frauengruppe, die Arbeitersache und die Projektgruppe Technologie.3

Christine Dombrowsky arbeitet gleichzeitig im Trikont-Verlag in der Josephsburgstraße 16. Hier solle eine Frauen-Reihe entstehen, an deren Konzeption auch einige Frauen der Siemens-Frauen-
gruppe
beteiligt sind. Den vorgeschlagenen Namen „Frauen in der Offensive“ verkürzt Achim Bergmann (heute: Trikont-Label Unsere Stimme) zu Frauenoffensive. Sie begann als „Reihe Frau-
enoffensive“ im Trikont-Verlag mit „Lohn für Hausarbeit“, dem „Frauen-Journal Nr. 1“ und der Langspielplatte „Von heute an gibt’s mein Programm“. Jetzt macht sich die innerhalb des Verlags konzipierte Reihe im Frühjahr 1974 selbständig. Achtzehn Frauen beschließen das erste autonome feministische Projekt in Deutschland. Es entsteht die Frauenoffensive als erster Frauenbuchverlag in der BRD.4

24. Februar: Das Frauenforum benutzt den Faschingstrubel für seine Kampagne zur Abschaffung des § 218: „Dreiundzwanzig ‚Hexen’ des Frauenforums feiern einen ‚politischen Weiberfasching’ in München. Mit Transparenten und Protestsongs ‚Der Beischlaf wird jetzt abgeschafft, weil’s mit Patriarchen keinen Spaß mehr macht!’ und ‚Wenn der § 218 nicht fällt, sterilisieren wir die Män-
nerwelt!’ ziehen wir singend und tanzend durch die Fußgängerzone zur Frauenkirche und verteilen 4.000 Flugblätter ‚Die Hexengeschichte’.“5 — Die Musikerin und Autorin Inge Latz ist aktiv im Frauenforum.6

Zweihundertneununddreißig Berliner Ärztinnen und Ärzte haben sich in einem öffentlichen Aufruf selbst bezichtigt, Abtreibungen oder Beihilfe zu Abtreibungen vorgenommen zu haben. Sechs Münchner Frauengruppen solidarisieren sich am bundesweit ausgerufenen „nationalen Protesttag gegen den § 218“ mit einem Schweige-Protestmarsch am 16. März zum Marienplatz, wo sie inner-
halb von drei Stunden achthundert Solidaritätsunterschriften sammeln.7 Sie demonstrieren außer-
dem gegen die Absetzung eines Fernsehbeitrags über eine Abtreibung.8 — Am 6. April kommt es zu einer Kundgebung für eine Reform des § 218.9 — Am 24. April demonstriert die SPD für eine Re-form des Abtreibungsparagraphen.10

Am 26. April beschließt unter dem Druck der Öffentlichkeit zweimal, einmal mit einfacher und dann mit absoluter Mehrheit, der Bundestag die Änderung des Strafrechtsparagraphen 218 („Fri-
stenlösung“). Am 21. Juni wird das Gesetz verkündet. Auf Antrag der CDU/CSU verhindert das Bundesverfassungsgericht das Inkrafttreten durch eine einstweilige Anordnung.

Moden kommen und gehen. Jetzt, im Frühling, sind die Dreißiger Jahre wieder aktuell. Kritische Frauen fühlen sich da ziemlich unwohl.11

Aus den USA kommt ein Vorschlag, anders miteinander umzugehen. Unter dem Motto des „Con-
sciousness-raising“ (CR) versuchen Frauen in wöchentlich stattfindenden CR-Gruppen die Metho-
den des Ausredenlassens und Zuhörens zu üben. Und sie schließen sich zusammen, um auch theo-
retisch begründen zu können, was das Spezifische an der neuen Frauenbewegung ist. Hat sie sich auch von allgemein-politischen Positionen autonom zu verabschieden oder ist sie in Sozialismus-
konzepte mit eingebunden? Die Frauen planen eine Diskussion über Herbert Marcuses Aufsatz „Marxismus und Feminismus“, die sie am Starnberger See abhalten wollen.12

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Männliche Autoren haben manchmal noch Schwierigkeiten mit dem Aufbruch der Frauen, Zeichner eher weniger.

Allenthalben entstehen Vorurteile gegen die neue Frauenbewegung. Frau wehrt sich.14

Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 4. Oktober von einer „Straßenaktion des Frauenforums“ und meint am 16. November: „Feministen schließen sich zusammen.“

Und die „alte“ Frauenbewegung wehrt sich gegen die sogenannte „neue“ Frauenbewegung: „9. Dezember: Unser zweiter Versuch in den ‚Bayerischen Landesfrauenausschuss’ aufgenommen zu werden, wird von den Vorstandsdamen nach sorgfältiger Prüfung aller vorliegenden Unterlagen bei einer (!) Stimmenthaltung von allen abgelehnt mit der Begründung: ‚Die Ziele des Frauenfo-
rum München e.V., das sich zur sog. neuen Frauenbewegung (Feministen) zählt, stimmen nicht mit der Zielsetzung des Bayerischen Landesfrauenausschusses überein, wie sie in § 1 seiner Ge-
schäftsordnung niedergelegt ist, Auch Arbeitsweise und Argumentation der neuen Frauenbewe-
gung unterscheiden sich grundsätzlich von Arbeitsweise und Argumentation der im Bayerischen Landesfrauenausschuss vertretenen Verbände.’“15

Siehe auch „Hausbesetzungen“.


1 Die PTM besteht vor allem aus Studierenden an der Technischen Hochschule. Sie verbindet Marxismus mit Ökologie und gründet 1975 die „Gesellschaft für ökologische Forschung“.

2 Damals dabei: Josef Fischer und Daniel Cohn-Bendit.

3 Vgl. Interview Hella Schlumberger mit Christine Dombrowsky im Januar 1993, zwei Kassetten im Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung; vgl. Interview Roland HH Biswurm mit Christine Dombrowsky am 2. Dezember 1995, Kassette im Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung; vgl. den Film „Wir haben lange genug geschwiegen“ im Archiv 451 im Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

4 Siehe „Von heute an gibt’s mein Programm!“.

5 Der Feminist. Beiträge zur Theorie und Praxis 21/1991, München, 27; vgl. Süddeutsche Zeitung 47/1974.

6 Siehe „Es gibt eine Armee“ von Inge Latz.

6 Siehe „Aktion § 218 organisiert sich in ganz Deutschland“.

7 Vgl. Süddeutsche Zeitung 65/1974.

8 Vgl. Münchner Merkur 83/1974.

9 Vgl. Süddeutsche Zeitung 96/1974.

10 Siehe „Ein Hoch auf ein Nichts!“ von Magda Stroh.

11 Siehe „Nackt im Frühlingsgewitter“ von Inge Heinrichs.

12 Siehe „Was ist Weiblichkeit?“.

13 Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

14 Siehe „An den ‚Spiegel’“ von Hannelore Mabry.

15 Der Feminist. Beiträge zur Theorie und Praxis 21/1991, München, 29.