Flusslandschaft 1974
Stadtviertel
„Eingang zum Schwabylon-Freizeitzentrum mit der »aufgehenden Sonne« des Architekten Prof. Justus Dahinden. Hinter dem Zentrum die beiden Wohnblöcke mit über 660 Ein- bis Vier-Zim-
mer-Appartements (viele davon sind heute noch »zu vermieten«). Ihr Architekt: Ernst Barth. Foto: Franz Weich“1
Jost Maxim, Kinder im Westend, Kreide, 1974
„In München, auf dem Gelände des ehemaligen Hacker-Kellers ist eine irrsinnige Baumasse von Warenhaus-, Wohnungs- und Bürokomplexen hochgezogen worden, die erdrückend wirkt in dem einfachen Wohnviertel mit Häusern in kleinem Maßstab ringsum. Man hat so richtig brutal hineingeklotzt und eine historisch gewachsene Wohnfläche zerstört. Ich habe mich einfach mal dahingesetzt, um das zu zeichnen ohne direkte Bildvorstellung: diese Baumasse und diesen kleinen Maßstab der alten Häuser. Gleich kam eine Schar Kinder auf dem Weg aus der Schule, neugierig und mit vielen Fragen. Zum Beispiel: »Warum malst du nur Häuser?« »Stell dich nur da hin«, sagte ich dazu, »jetzt zeichne ich dich.« Er war ganz stolz, und gleich kam sein Freund und legte ihm den Arm um die Schulter und wollte auch mit aufs Bild. Ich mußte sehr schnell zeichnen. Sie sind ja quirlig, die Kinder. Ich hab’ ihn also mitskizziert und schon kam der dritte. Ich bekam also die schönste Gelegenheit, Kinder mitten auf der Straße zu zeichnen. Sie waren schon geprägt von den schlechten urbanen Verhältnissen, ihren Gesichtern hat man das angemerkt trotz der unerhör-
ten Vitalität, wie sie da vor mir posierten und einander dabei anrempelten. Dann habe ich die Kin-
der- und die Gebäudeskizzen zu einer Zeichnung »Kinder im Westend« verwendet. So wächst ein realistisches Thema aus der Erfahrung unserer Wirklichkeit. Jost Maxim“2
Im Winter 1970/1971 wurde die Aktion Maxvorstadt gegründet. 1974 herrscht im Viertel die Angst. In der Bürgerversammlung am 25. März im Schwabinger Bräu wird es ungemütlich.3 — Die Akti-on Maxvorstadt tagt regelmäßig im Saal der Gemeinde von St. Ludwig und ist zum Teil mit dem Pfarrgemeinderat identisch. Selbstverständlich kommt es auch zu Konflikten zwischen der Bürger-initiative und der Pfarrei, die sich nicht vom Pfarrgemeinderat vorschreiben läßt, was sie tun und lassen darf.4
Zwischen Erhardt- und Baaderstraße soll das Europäische Patentamt (EPA) entstehen. Hausei-
gentümer klagen mit Erfolg gegen den Bebauungsplan, der diverse Formfehler enthält. Daraufhin votiert der Stadtrat erneut für den „alten“ Standort. Im folgenden Jahr, 1975, tritt ein neuer Bebau-
ungsplan in Kraft, der postwendend mit einer Normenkontrollklage beantwortet wird, die im De-
zember diesen Jahres abgewiesen wird. Am Donnerstag, 18. September 1980, wird das EPA offizi-
ell eröffnet.
Auch vor den Toren der Stadt regt sich Unmut. Die Burg in Grünwald soll in ein Luxuswohnheim für reiche Leute umgewandelt werden. Am 17. April werden Protestflugblätter verteilt.
„LADENTREFFPUNKT IN HAIDHAUSEN – Wir haben schon bei der Besetzung des Gasteigspitals mitgemacht und wollen auch weiterhin nicht zusehen, wie nach und nach der gesamte Stadtteil Haidhausen in eine Betonwüste verwandelt wird. Zu diesem Zweck haben wir jetzt in der Keller-
straße 19 einen Laden gemietet. Einen Treffpunkt für alle, die an der Erhaltung des Stadtteils interessiert sind. Wir arbeiten Gegenvorschläge zur sogenannten Stadtteilsanierung aus und ver-
suchen sie durchzusetzen. – Eine Frauengruppe hat sich gebildet, die samstags um 16 Uhr zusam-
menkommt. Weiter planen wir Filmvorführungen und Informationsveranstaltungen. Im Keller des Ladens richten wir eine Werkstatt ein, die jeder Interessierte mitbenutzen kann. Wir brauchen da-
zu noch Werkzeuge. Abends gibt’s bei uns Essen und Bier zum Selbstkostenpreis. Der Laden ist offen. Kommt vorbei und seht Euch um. – Ladenkollektiv Kellerstr. 19“5
„DREI-TAGE-FEST IM HASENBERGL – In der Vorstadtsiedlung Hasenbergl gibt es kein Kino, kein Theater, keine Bibliothek, keine größeren Veranstaltungsräume. Die Stadt hat wiederholt ver-
sprochen, an der Winterstein/Stösserstraße ein Bürgerzentrum zu bauen. Baubeginn sollte 1974 sein. Jetzt teilte OB Kronawitter mit, dass die Finanzierung weder in diesem noch im nächsten Jahr gesichert ist. Aus Protest gegen die nicht eingehaltenen Versprechungen der Stadt und um zu zeigen, was sich in dem Bürgerzentrum tun kann, veranstalten die verschiedenen Bewohnergrup-
pen vom Donnerstag, dem 20. Juni, bis Samstag, dem 22. Juni, eine Bürgerzentrumsaktion an der Winterstein/Stösserstraße. Genaueres steht im Veranstaltungskalender.“6
Allein im letzten Monat des Jahres kommt es in der ganzen Stadt zu fünfzehn Bürgerversammlun-
gen, auf denen sich nicht selten Unmut breit macht.7
(zuletzt geändert am 18.5.2025)
1 Siehe „Die Große Hure Schwabylon“ von Werner Marschall.
2 tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 100 vom März/April 1975, 31.
3 Siehe „Modell Maxvorstadt“ und „Turbulente Szenen“.
4 Siehe „Die Aktion Maxvorstadt und die Pfarrei St. Ludwig“ von Manfred Hank.
5 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 3. Siehe auch „„Sanierung“ in Haidhausen“.
6 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 3.
7 Siehe „Wenn sich Bürger versammeln“ von Hans Rainer.