Flusslandschaft 1977

Atomkraft

„Deama uns zamm, gema koa Ruah, / heid is fileichd grod no boid gnua, / endweda mia wean heid no agdif / oda moang radeoagdif. // Refrain: // Auf beim Schbund, / d Wäid ged zgrund, / wamma nimma lem, / samma nimma gsund, / kemma nimma song, / d Wäid ged zgrund. / samma nimma gsund. // Üwaroi wean jezd Grafdweak baud, / Schdraln wean in d Lufd nausghaud, / brauchds blos a schlechds Weda sei, / scho schnaufds es ei. // Refrain … // Wans a zeaschd a boa blos drifd, / sche schdad wead uns as Wassa fagifd, / Weiba bringa dode Kinde auf d Wäid, / da Fiama bringds a Gäid. // Refrain … // Grod das de Gmeinde / duach des Weak a Gäid einimd, / dann brauchma nämle ganz nodwendig / a Schdralnglinig. // Refrain … // Und de Hean woin uns fa-
zäin, / mia brauchadn an Schdrom zum Radeo hean, / wann amoi a Durchsag kimd, / das im Kakawe wos ned schdimd. // Refrain … // Und d Inschenea und d Brofessoan, /de ham hoch und heilig gschwoan, / das des Kakawe a Seng fia olle wiad / und fileichd a nix bassiad. // Refrain … // Und in Wil in Badn, / do woins scho seid fünf Jarn / an Reagdoa baun / und deafa se ned draun. // Refrain … // Weil do ham d Leid an Baublods bsezd, / d Fiama hod d Bolezei highezd, / gega so fui Leid ham de se a ned draud, / und bis heid is no koa Grafdweak baud. // Refrain …“1

28. Januar: Gegen die zahllosen Demonstrierenden, die in Malville (Frankreich) gegen den „Super-Phoenix“ protestieren – Münchnerinnen und Münchner sind auch dabei –, setzt die Polizei Nebel-, Gas- und Offensivgranaten ein. Ein Demonstrant verliert sein Leben, einem weiteren wird ein Fuß durch eine Granate abgerissen, es gibt unzählige schwer- und leichtverletzte Demonstrantlnnen.

Rudi Amannsberger will mit Freundinnen und Freunden am 19. Februar zur Brokdorf-Demonstra-
tion fahren. Er erinnert sich: „Mit drei Bussen, die die Münchner Initiative gegen Atomanlagen und die Münchner Atomkraftgegner organisiert hatten, sind wir von München aus losgefahren. Die ganze Zeit ist die Polizei hinter uns her gefahren und an einer Autobahnraststätte hat sie uns schließlich angehalten. Wir wurden von Polizisten mit Maschinenpistolen umstellt und vier Stun-
den lang festgehalten. Weil dann klar war, dass wir nicht mehr rechtzeitig zu der Großdemo in Brokdorf kommen würden, sind wir um 6 Uhr morgens umgekehrt.“2 Am Münchner Stachus an-
gelangt versuchen die AtomkraftgegnerInnen eine Spontandemo, leider ohne Resonanz; es ist Fa-
schingssamstag. Dafür kommt es am Monopteros im Englischen Garten zu einem nicht angemel-
deten Narrentreiben, das einige Wellen schlägt.3

Am 13. März scheitert in Grohnde der Versuch von ca. 20.000 AKW-Gegnerlnnen. den Bauplatz für das dort geplante AKW zu besetzen; es wimmelt von Polizei.


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Am 7. Mai findet eine Großdemonstration gegen das AKW Isar I in Ohu statt. Viele Münchnerin-
nen und Münchner sind dabei sowie siebentausend Polizisten, zwei Hubschrauber und fünf Po-
lizeiboote.5 Wenige Wochen später kommt es zu Übergriffen.6

Etwa zweihundert Atomkraftgegner radeln am 30. Juni auf der „Demo der lachenden Gesichter“ von Ministerium zu Ministerium und von Konzern zu Konzern.7 Die Demonstration sucht nicht nur in den Formen neue Wege, sie beruft sich auf ein neues, ökologisches Gewissen.8

Die Bürgerinitiative Bürgeraktion Umweltschutz München wendete sich am 14. Juli vehement gegen eine Beteiligung der Stadt am AKW Ohu. „Wenige Tage vor der geplanten Klausurtagung der Stadtspitzen zum Thema Atomstrom stellte das Bündnis die Forderung, der Neubau von Kern-
kraftwerken müsse unterbleiben, solange die Umwelt- und Gesundheitsrisiken dieser Anlagen so unübersehbar und bedrohlich seien, wie dies gegenwärtig der Fall sei.“ Am 23. Juli erteilt die Münchner SPD auf einem „kernenergie-politischen Parteitag“ den Beteiligungsabsichten der Stadt mehrheitlich eine Absage. Wenige Tage später kritisiert Oberbürgermeister Kronawitter diesen Beschluss. Er wirft seinen Parteigenossen vor, sich „ohne ausreichende Erörterung der lebens-
wichtigen Fragen der Energieversorgung“9 allzu einseitig festgelegt zu haben.10

Münchnerinnen und Münchner fahren mit Bussen und Zügen nach Kalkar am Niederrhein: Eine staatliche Notstandsübung be- und verhindert am 24. September den Protest gegen den Bau des „Schnellen Brüters“. Massenhaft werden Personenkontrollen durchgeführt, Kontrollstellen auf den Autobahnen errichtet, Sonderzüge gestoppt, Demonstrationsteilnehmerlnnen stundenlang festge-
halten, durchsucht und erkennungsdienstlich behandelt. Insgesamt werden rund 125.000 Perso-
nen in nur 12 Stunden überprüft. Trotzdem gelangen noch ca. 50.000 AKW-Gegner nach Kalkar; eine Demonstration ist aufgrund des gigantischen Polizeiaufgebots allerdings nicht möglich.

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Am 15. November erhalten Tausende von Münchner Haushalten einen Fragebogen. Im amtlich aussehenden Begleitschreiben wird von einer Voruntersuchung gesprochen, die „Aufschluss für einen besseren Schutz im Falle eines kerntechnischen Unfalls“ geben könne. Die Telefone im Rathaus laufen heiß. Oberbürgermeister Kronawitter erklärt, es handle sich um ein fingiertes Schreiben, das die „Bevölkerung irritieren und beunruhigen“ solle. Wenige Tage später wird ein weiterer Text an einige Stadträte, an die Bezirksausschüsse und an die Presse geschickt.12

(zuletzt geändert am 16.10.2024)


1 Fliegenpilz. Zeitschrift für Politik + Literatur 1 vom Oktober 1977, München, 55.

2 Süddeutsche Zeitung 27 vom 3. Februar 1999, L3.

3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 42/1977; siehe „Warum eigentlich kein Kernkraftwerk im Englischen Garten?“ und „Festival der Asphaltaktivisten in München vom 27. – 30. März“.

4 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

5 Vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 93 vom 6. Mai 1977, 7 und 94 vom 10. Mai 1977, 4 f.

6 Siehe „Kraftwerk in OHU abgebaut“.

7 Vgl. Blatt – Stadtzeitung für München 99 vom 15. Juli 1977, 4 ff.

8 Siehe „Das Ende der Megalopolis“ von Rädli.

9 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

10 Siehe dazu auch „Müllmutanten“ von Julius Schittenhelm.

11 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

12 Siehe „Diese Stadt braucht Atomkraftwerke – wir wollen eine andere Stadt“.