Flusslandschaft 1977
Kunst/Kultur
Am 27. Juli finden sich Musiker, Maler, Kabarettisten, Frauen und Männer zusammen und grün-
den die Künstlergemeinschaft Erich Mühsam.
BILDENDE KÜNSTE
Am 7. Juli gründet Klaus Lea die Alternativgalerie in der Blütenstraße 1 in der Maxvorstadt.1
Im King Kong Kunstkabinett entsteht eine Künstlergruppe (Amann, Schikora, Zierold), ein projek-
tierter Erfahrungs- und Experimentalraum künstlerischer Kooperation mit kollektiven Malereien, Plastiken, illustrierten Texten und Videoarbeiten.
MUSEEN
Das Haus der Kunst zeigt „Die Dreißiger Jahre — Schauplatz Deutschland“. Ludwig Zerull ist nicht zufrieden.2
MUSIK
Damned spielt im Downtown. Clash spielt im Schwabinger Bräu. Aufnahme der LP „Pack“.
THEATER
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In München spielen zehn freie Theater.4 Im kommenden Jahr bezuschusst die Stadt München alle Theater mit insgesamt fast 500.000 Mark. Das sieht üppig aus.5
„Demokratie auf dem Dach. – Im Theater in der Kreide ist wieder die Revue zum Berufsverbot ‘die gestiefelte Nachtigall oder Demokratie auf dem Dach’ von Gert Heidenreich zu sehen. Eine soeben abgeschlossene Tournee mit der ‘Nachtigall’ durch Norddeutschland bewies dem TiK, wie unver-
ändert aktuell und gefragt dieses Stück ist. Die Auseinandersetzung um die zunehmende Ein-
schränkung der bürgerlichen Freiheiten in der BRD hat dazu geführt, dass Literatur und Theater sich immer deutlicher gegen jene Gesetze und Erläße engagieren, mit welchen – unter dem Vor-
wand des Verfassungsschutzes – die in der Verfassung garantierten Freiheiten mehr und mehr abgebaut werden. – Das TiK zeigt die Geschichte der Berufsverbote von 1819 bis 1976. (2., 3. und
4. Juni jeweils 20 Uhr).“6
Ab 15. Oktober findet das erste „Internationale Festival des Freien Theaters“ in drei Zelten auf dem Platz zwischen Barer-, Gabelsberger- und Türkenstraße statt. Dabei sind George Tabori mit „Sig-
munds Freude“, Jango Edwards, Rote Rübe mit „Liebe, Tod, Hysterie – ein Zirkus“7 und Embryo.
Das 1951 in New York gegründete Living Theatre bringt „Sieben Meditationen des politischen Sa-
domasochismus“, ein Stück über Julian Becks, Gründer und Leiter des Living, Erfahrungen in bra-
silianischer Haft, eine Dokumentation der Folter.
Imke Buchholz: „Das Publikum erwartet etwas Lebhaftes, und es dauert eine Weile, bis es sich be-
ruhigt hat. Einige Patzer … die deutsche Sprache … Bei der Folterszene, als Julian Stammheim nennt, gibt es ein Knistern unter den Zuschauern, sogar etwas ängstlichen Applaus. Ich sehe ge-
genüber dem Foltergestell hinter Hanon einige Frauen klatschen, die Hände vorsichtig an der Sei-
te. Sie verstecken ihre Gefühle in ihren Röcken. Ich rede mit intelligenten Leuten. In dieser ambi-
valenten Zeit sind sie, wie alle, in Verlegenheit … Sie warnen mich vor den Gefahren, in Deutsch-
land ‚Anarchist’ zu sein … Sie sind sehr freundlich, wissend, etwas verzweifelt. Eine sagt für alle folgendes: ‚Ja, es ist Zeit, wir sehen es zu pessimistisch, und wir haben Angst. Wir leben mit der Furcht. Aber trotzdem sind wir froh, jemanden reden zu hören, der nicht so pessimistisch ist und nicht so ängstlich.’ Statt einer von Tom Petz, dem Organisator des Festivals erbetenen ‚Kurzen Er-
klärung zur Abgrenzung gegen …’ verteilt das Living Flugblätter: ‚Warum wir Anarchisten sind: … weil wir glauben, dass die Menschen fähig sind, ihr Leben zu organisieren, ohne sich einer Autori-
tät zu unterwerfen. Wir glauben, dass es möglich ist, aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen und unsere Beziehungen zu erneuern.’ … Dann Mogadischu und die Selbstmorde … Auf unserem Weg zum Bus begegnen wir einem alten Mann in grauem Anzug, ein sehr ordentlich gekleideter Mann. Als er sich uns nähert, winkt er mit der Hand als Zeichen seines Enthusiasmusses: das Schwein Baader ist tot!! Wir nicken. Ja, ja, aber mit einem Seufzer. Er ist der Mann auf der Straße und er spielt seine Rolle und spricht seinen Text mit einer Betonung, die unmissverständlich ist … Die Festivalleitung räht dem Living an, auf die Straßenaufführung von Five Piblic Acts ‚zu verzich-
ten, angesichts der prekären politischen Lage’. Öffentliches Theater bedeutet den Teufel an die Wand zu malen … Sie spielen … Der vierte Akt am Haus des Staates: ‚Julians gefährliche bloodline’. Dazu der Text: ‚Dies ist das Blut von Andreas Baader, von Gudrun Ensslin, von Ulrike Meinhof und von Holger Meins, und es ist das Blut des Richters Drenkmann, des Richters Siegfried Buback und von Hans Martin Schleyer. Sie sind alle Opfer eines staatlich gelenkten Erziehungssystems, das uns alle eine offizielle Staatsphilosophie lehrt: das bestimmte Probleme nur mit Gewalt gelöst werden können, eine Philosophie, die unsere Denkfähigkeit verachtet und unsere Liebesfähigkeit zerstört.’ Die Blutstropfen ergänzen sich und ergeben ein Bild. Annies Finger blutet ungehemmt und sie ver-
vollständigt das A im Kreis. Am Ende der Szene kommt ein Mann im grauen Arbeitskittel aus dem Gebäude …"8
Der Staatsanwalt empfindet die Stücke als Verunglimpfung der Bundesrepublik. Zwei unauffällige Herren verhaften am 25. Oktober Julian Beck in seinem Hotelzimmer. Etwa hundertfünfzig Leute machen aus Protest gegen die Verhaftung einen Schweigemarsch mit hinter dem Kopf verschränk-
ten Händen zum dumpfen Schlag einer Pauke durch die Fußgängerzone zur Ettstraße. Dort setzen sie sich auf die Straße und beginnen zu summen. Erst nach einem zehnstündigen Verhör und nach Zahlung einer Kaution von 2.000.- DM durch die Festivalleitung wird Beck wieder freigelassen.9
Im Living-Workshop entsteht das Stück „57 Worte aus der Süddeutschen Zeitung vom 24. Oktober 1977“. Jede und jeder, der/die mitmacht, findet in den Schlagzeilen Worte wie „Elitetruppe", „Ju-
stizvollzugsanstalt" oder „Verkehrsunfall" und „bespielt" das Wort in körperlicher Aktion. Diese „lebendige" Zeitung wollen die Workshopler in der Fussgängerzone erscheinen lassen. Verbot! Einige versuchen es trotzdem. Verbot! Einige versuchen es trotzdem … Ermittlungsbeamte tauchen sogar bei ihnen zu Hause auf. Kilian meint: „Wir kamen ins endlose Reden über die Angst und ver-
loren dabei die Fähigkeit, uns zu bewegen."10
VERLAGE und ZEITSCHRIFTEN
1957 gründete der Feldafinger Friedl Brehm seinen Verlag. Der unkonventionelle Kleinverleger steckte sein gesamtes Einkommen aus seinem Beruf als Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung in sein Projekt, das bis 1989 existierte. Um jungen Mundartautoren ein Forum zu bieten, gründete er zusammen mit Christian Buck 1969 die halbjährlich erscheinende Literaturzeitschrift „Schman-
kerl“. Etwa zur selben Zeit gab Brehm noch die nur kurze Zeit bestehende Literaturzeitschrift „Edelgammler“ heraus. Das „Schmankerl“ entwickelt sich bald zum bayrischen Sprachrohr der „Neuen deutschen Mundartdichtung“ (Hoffmann/Berlinger), die sich deutlich von der „tümeln-
den“ Heimatlyrik absetzt und bis dato noch selten gehörte kritische Töne anschlägt. 1977 erschei-
nen hier „gedichta“ von Helmut Paul Eckert.11
(zuletzt geändert am 27.2.2021)
1 Siehe „Einzelgänger“ von Klaus Lea.
2 Siehe „Verwischte Zeitgeschichte“ von Ludwig Zerull.
3 Fliegenpilz. Zeitschrift für Politik + Literatur 1 vom Oktober 1977, München, 36.
4 Siehe „Oppodeldok“ von Lotte, „Eyes & Ears II Theaterwerkstatt“ und „Das Kollektiv Rote Rübe“.
5 Siehe „Die Klein-Bühnen mit dem silbernen Spaten“ von Leopold Lilliput.
6 Blatt. Stadtzeitung für München 95 vom 3. Juni 1977, 18.
7 Siehe „Roter Rübensaft“.
8 Blatt. Stadtzeitung für München 136 vom 22. Dezember 1978, 21 f. Vgl. Imke Buchholz, Living heißt Leben Theater. Von einer, die auszog, das Leben zu lernen, München 1978.
9 Vgl. Blatt. Stadtzeitung für München 107 vom 4. November 1977, 20 ff.
10 Blatt. Stadtzeitung für München 136 vom 22. Dezember 1978, 22.
11 Siehe „Hoass bflassda fom begg“.