Flusslandschaft 1987

CSU

Was meint Franz Josef Strauß, wenn er fordert, die Deutschen müßten aus dem „Schatten Hitlers heraustreten“, wieder zum „aufrechten Gang“ zurückfinden? Seine Antwort: „Die deutsche Ge-
schichte ist keine endlose Folge von lrrtümern, Fehlern, Verbrechen und Katastrophen. Man darf die Geschichte der Deutschen nicht unter dem Blickwinkel der unseligen zwölf Jahre der Hitler-Diktatur isolieren, die Verbrechen der Nazis als ein nur für Deutschland typisches Charaktermerk-
mal beschreiben und damit die Deutschen für immer mit einem kriminellen Charakter überzie-
hen.“1

„Vor der Bundestagswahl wurden nach Angaben der CSU erschreckend viele ihrer Plakatständer zerstört. Im ganzen Stadtgebiet, und in Stadtteilen wie Feldmoching und Moosach gleich ‚reihen-
weise’. 250 DM Belohnung hat die CSU für Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung der Täter führen. Sie geht davon aus, dass diese Tafeln ziemlich stabil gebaut seien und deshalb ‚die noch unbekannten Täter zielgerichtet mit Werkzeugen ausgerüstet’ sein müssten. Dem allerdings stehen Beobachtungen eines Passanten entgegen, wonach am hellen Nachmittag die Plakatständer am Maximilianeum von einem jungen Mann eingetreten wurden: Mit Turnschuhen und je ein paar kräftigen Fußtritten.“2

Am 15. Januar wird das Flugblatt des Anti-Strauß-Komitees während einer Wahlveranstaltung der SPD mit Johannes Rau beschlagnahmt, auf dem Folgendes zu lesen ist: „Angeklagt. Strauß und seine Staatspartei CSU wegen Bruch der Versammlungsfreiheit, Außerkraftsetzen der Demon-
strationsfreiheit, Verstoß gegen die Freiheit der Kunst, Bruch der Meinungs- und Pressefreiheit, Verletzung der Menschenwürde, Vergehen gegen die Unverletzlichkeit der Person, Initiierung und Durchsetzung von Gesetzen, die die Demokratie außer Kraft setzen.“ Das Flugblatt ruft zu einer Demonstration für den 24. Januar auf dem Marienplatz auf und erwähnt: „Strauß und die CSU wurden nur von 1/3 (3,2 Millionen) der bayerischen Wahlberechtigten gewählt und von 2/3 (5,1 Millionen) nicht gewählt!“3

Für den Tag vor der Bundestagswahl soll am 24. Januar eine vom Anti-Strauß-Komitee (ASK) angemeldete Demonstration und Kundgebung auf dem Marienplatz unter dem Titel „Angeklagt: Strauß und seine Staatspartei CSU“ stattfinden. Schon an den Tagen vorher zieht die Songgruppe des ASK durch Münchner Lokale und wirbt mit einem „Kriminaltango“ für die Kundgebung. Ne-
ben Friedens- und Zukunftsforscher Robert Jungk sprechen auf dem Marienplatz Brigitte Hof-
meier und Edmund Trageser. Die Veranstalter sprechen von viertausend Teilnehmern, die Polizei von 1.600. Elf Demonstranten werden wegen Beleidigung vorübergehend festgenommen.4

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Am 25. Januar ist Bundestagswahl. Die Union wird von Senioren, deren Renten und Zuschüsse gekürzt wurden, und von denen, die sich eine „echte Wende“ erwartet haben und nun zutiefst ent-
täuscht sind, abgestraft und muss bundesweit 2,2 Millionen Stimmen Verluste feststellen. Franz Josef Strauß hat sich, bevor er ins Fernseh-Wahlstudio geht, erkennbar einen eingeschenkt.6

„Falsche Belehrung aus historischer Sicht – Nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen ist, ist es an der Zeit, Ministerpräsident Strauß darauf hinzuweisen, dass die Ermordung von Ju-
den, Zigeunern und anderen ,Untermenschen‘ keine Kriegsverbrechen waren. Oder befanden sieh die vergasten Männer und Frauen, die Kinder und Greise im Krieg mit Deutschland? Wer wie Herr Strauß in dem SZ-Interview vom 16.1. diesen verwaltungsmäßig perfekt organisierten Völkermord an Millionen von Menschen nicht nachdrücklich trennt von den gegenseitigen Kriegsverbrechen (die es ohne den von uns begonnenen Krieg gar nicht gegeben hätte), der relativiert in unerträgli-
cher Weise die Barbarei von Auschwitz. Wer so mit der ,ganzen geschichtlichen Wahrheit‘ umgeht, damit wir wieder aufrechten Ganges durch die.Geschichte gehen, der verschließt seine Augen vor der schlimmsten Hypothek, die uns das Dritte Reich hinterlassen hat: die Juden werden zum Erbe ihrer Väter zurückfinden, denn dieses Erbe ist frei von Schande; wie man aber als Deutscher über Auschwitz hinwegkommen kann, das weiß ich nicht (Lea Fleischmann). Herr Strauß macht es sich mit seinem Verdikt über die ,Demagogen‘ mit ihrer ,Dauerflut der Schuldgefühle‘ zu einfach, wenn er meint, uns aus historischer Sicht belehren zu müssen: ,Die Barbarei war nicht auf Deutschland beschränkt.‘ Welche Barbarei? – ,Die totale Verherrlichung der nationalen Identität und ihrer ras-
sischen Hintergründe‘ als unmittelbare Ursache für die deutsche Katastrophe allein den Nazis an-
zulasten, verkürzt eben die geschichtliche Wahrheit. Der Rassenwahn, der exzessive Legalismus, die Perversion des Pflichtbegriffs, der anerzogene Gehorsam, der Mangel an freiem Bürgersinn waren in Deutschland sehr viel älteren Datums als die Nazis und ermöglichten erst den Holocaust. Der Nationalsozialismus hatte seine Geschichte, längst bevor es eine Geschichte des Nationalso-
zialismus gab (Joachim Fest). – Dr. Volker Fritzsche, Elektrastraße 17, 8000 München 81“7

„Am 27.2.87, fünf Wochen nach Erscheinen wurden in München, Regensburg, Augsburg und Nürnberg bei Mitgliedern des Anti-Strauß-Komitees Hausdurchsuchungen durchgeführt sowie ein Ermittlungsverfahren wegen ‚Beleidigung’ gegen den presserechtlich Verantwortlichen eingeleitet. Die Broschüre ‚Recht ist was Strauß nützt’ fand auf Grund ihrer Aktualität und der richtigen Ein-
schätzung des gefürchteten Demokratieverständnisses von Strauß und der Staatsregierung reißen-
den Absatz. Restexemplare wurden beschlagnahmt.“8

„3. April: Als eine ‚auch in der politischen Auseinandersetzung nicht mehr gerechtfertigte Schmäh-
kritik’ wertet das Amtsgericht München den Inhalt eines Flugblatts, mit dem vom Anti-Strauß-Ko-
mitee für eine Demonstration gegen die AIDS-Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung, die morgen geplant ist, geworben wird. Die Überschrift ‚Die Bayerische Staatsregierung ist schlimmer als eine Seuche’ stellt nach Ansicht des Gerichts einen Verstoß gegen die Strafrechtsparagraphen 90 (Verunglimpfung) und 185 (Beleidigung) dar. Das Flugblatt wird beschlagnahmt.“9

Die CSU hat im letzten Vierteljahrhundert das „rückständige“ primär bäuerlich geprägte Bayern in ein Land der Industrie, Technik und Forschung umgestaltet. Zugleich ist sie immer auch die Partei, die den Stolz auf eigene Traditionen zelebriert, für Oppositionelle ein Widerspruch. Das Kultusmi-
nisterium empfiehlt für das Schuljahr 1987/88 den bayrischen Schulen das Schwerpunktthema „Heimat“. Die Münchner Freidenker zweifeln daran, ob die Heimat der CSU auch ihre ist.10

Wie oft hat Franz Josef Strauß kritische Geister als Söldlinge Moskaus oder als Kryptokommuni-
sten beschimpft. Am 27. Dezember nun wirft FJS den Motor seines Privatflugzeuges an. Hinter ihm nehmen Tandler, Stoiber, Waigel und einer seiner Söhne Platz. Man fliegt nach Moskau und landet waghalsig auf dem wegen schlechten Wetters gesperrten Flughafen, der zum Glück über eine lange Landebahn verfügt. Strauß will Gorbatschow kennen lernen. Die „Kryptokommunisten“ sind nicht erstaunt.11

Siehe auch „Militanz“, „Schwule/Lesben“, „StudentInnen“ und „Das Deutsche Museum im Zangengriff“ von Ralf Schmitt.

(zuletzt geändert am 1.6.2020)


1 Die Welt 15 vom 19. Januar 1987, 7.

2 Spion. Zeitung für München 52 vom Februar 1987, 4.

3 Dokumentation. Recht ist, was Strauß nützt. Rechtsbrüche der CSU im Jahre 1986, München 1986, unpag.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 20, 1, 24; Spion. Zeitung für München 53 vom März 1987, 5; Demokratischer Informationsdienst 64/1987, 4 ff.

5 Abendzeitung 28 vom 4. Februar 1987.

6 Siehe „Es plätschert munter kregel fort, das Jahr …“ von Eckhard Henscheid.

7 Süddeutsche Zeitung 30 vom 6. Februar 1987, 55.

8 Der Stadtbote. Politischer Rundbrief für München 12 vom 15. März 1987, 3.

9 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 79, 1, 9.

10 Siehe „DFV-Stellungnahme zur CSU-Heimatideologie“.

11 Siehe „Nochmals, Strauß: …“ von Eckhard Henscheid.