Flusslandschaft 1990
Frieden/Abrüstung
Mit dem Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten verblasst ein Feindbild. Das hindert die bundesdeutsche Justiz nicht, Aktivistinnen und Aktivisten der Friedensbewegung auch weiterhin strafrechtlich zu verfolgen.1
Und trotzdem glauben viele, dass eine neue Zeit anbricht: „Eines steht schon heute fest – die fetten militaristischen Jahre sind vorbei, der Pazifist darf hoffen. München – Dr. Ferdinand Dietz“2
Das Motto des Ostermarsches am Ostermontag, 16. April, lautet: „Abrüstung jetzt – und zwar rich-
tig!“3 Auf Schildern ist zu lesen: „Es geht auch ohne Armee!“
„Die Mitgliederversammlung der Humanistischen Union hatte im April das Thema ‚Die Angst der Politiker vor dem Zivilen Ungehorsam – Endlosschleifen vor Bayerischen Gerichten’. Mitglieder der Kampagne ‚Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung’ berichteten über ihr Entstehen, ihre Ziele und Aktionen: Die Regionalgruppe München bildete sich 1985 als Teilgruppe der bundesweiten ‚Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung’, die 1984 im Tübinger Raum gegründet sich den Abzug der Mittelstreckenraketen Pershing II zum Ziel setzte. Da die legalen Formen des Pro-
testes wie Demonstrationen, Menschenketten, schriftliche Appelle, keinerlei Wirkung zeigten (der damalige Innenminister Zimmermann: ‚Die demonstrieren, wir regieren!‘), wollte man durch zivi-
len Ungehorsam in Form von Sitzblockaden auf den Zufahrtsstraßen zu den Depots dieser Waffen den Druck auf die verantwortlichen Politiker verstärken. Bei ihren Aktionen orientiert sich die Gruppe an den Grundsätzen der Gewaltfreiheit Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings. Sie ruft öffentlich mit Flugblättern zur Teilnahme an gewaltfreien Sitzdemonstrationen auf und nimmt selber daran teil. – Die Teilnahme an den Aktionen zivilen Ungehorsams bedeutet für jede/n per-
sönliche Konsequenzen; d.h.: Strafbefehl über Geldstrafen, bei Einspruch: Gerichtsprozess. In den meisten Fällen erfolgt Verurteilung nach § 240 StGB, dem sog. ‚Nötigungsparagraphen’. Dann blei-
ben die Möglichkeiten: juristischer Kampf durch de Instanzen oder zahlen oder Ersatzfreiheitsstra-
fe – sprich: Knast! Bundesweit gab es seit 1984 schon weit über hundert Inhaftierte im Zusammen-
hang mit gewaltfreien Sitzblockaden. – Die Gruppe hat eine Liste mit ca. 50 Namen von ehemali-
gen Strafgefangenen – ab 1988 bis heute – unter Angabe der abgesessenen Gefängnistage heraus-
gegeben. Manche Namen tauchen mehrfach auf, und man hat den Eindruck, dass die Strafen 89/
90 noch drakonischer sind als in den Jahren zuvor. Waren es in den früheren Jahren durchschnitt-
lich Strafen von ca. 30 Tagen, so sind es 1990 100 Tage, 160 Tage, sogar 6 Monate und darüber. – Die Gruppe hält seit 1988 täglich von 17 Uhr bis 18 Uhr 30 Mahnwache in der Fußgängerzone unter dem Motto ‚Rüstungsgegner im Gefängnis’ und will das so lange tun, wie noch Leute wegen gewaltfreier Sitzblockaden verurteilt und eingesperrt werden. – Einem Mitstreiter dieser Kampag-
ne, Hannes Fischer, hat der OV München seinen Preis ‚Aufrechter Gang’ zugedacht. Hannes Fi-
scher hat sich über Jahre hinweg trotz erheblicher staatlicher Repressionen für das Recht auf ge-
waltfreies Widerstehen gegen Atomraketen-Lager und für das Recht, dazu aufzurufen, eingesetzt. Er hat selbst in Mutlangen blockiert und ist wegen Nötigung verurteilt worden. – Der Preis ‚Auf-
rechter Gang’ ist ein ideeller Preis; mit ihm sollen alle diejenigen ausgezeichnet werden, die sich in Bayern für Bürgerrechte und Demokratie einsetzen und insbesondere staatliches Handeln oder den Untertanengeist gesellschaftlicher Organe nicht kritiklos hinnehmen. – Der Preis wird Ende September/Anfang Oktober in einer öffentlichen Veranstaltung übergeben; eine Einladung folgt. – Der OV München arbeitet in einem Aktionsbündnis ‚Wer schützt uns vor dem Staatsschutz?’ mit, das am 8. Mai mit einer Veranstaltung gegen die Novellen zum Verfassungsschutzgesetz und Poli-
zeiaufgabengesetz protestierte und vor der Gefahr einer Art ‚Bayern-Stasi’ warnte.“4
Seit dem Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten würde, so behaupten es wichtige Mei-
nungsmacher, ein Zeitalter des Friedens anheben. Ja, das „Ende der Geschichte“ stehe an. Seltsam: Rüstungsgegner weisen darauf hin, dass der Feind jetzt doch endlich verschwunden sei und man folglich mit der Abrüstung ernst machen könne. Die USA aber zeigen, dass sie anderes vorhaben. Der Rüstungsetat in diesem Land schwillt weiter an mit SDI, Stealth-Bombern, MX- und Midget-
man-Raketen sowie „neuen Fernwaffen für U-Boote“.5 Da wundert es nicht, dass der neue Wehr-
etat der Bundeswehr der höchste in ihrer Geschichte ist. Trotzdem: Sowohl die IG Metall als auch die Friedensbewegung hat in den letzten Jahren in zäher Kleinarbeit über Betriebsräte zum Teil erfolgreich Unternehmen zur „Rüstungskonversion“, also zur Friedens- statt Kriegsproduktion bewegen können. Vom 20. bis 25. April zeigen bei der „Conversion ’90“ auf dem Messegelände dreihundert Rüstungsbetriebe mit 1.200 Exponaten, dass sie auch Sinnvolles herstellen. Leider fehlen die entscheidenden Rüstungsproduzenten wie Siemens und Daimler. – „‚Conversion 90’: UdSSR rüstet um – So viel Offenheit wirkt entwaffnend: 300 sowjetische Rüstungsbetriebe zeigten Ende April in München an 1.200 Produkt-Beispielen, welche Güter sie künftig für den zivilen Be-
darf herstellen wollen. Die Messe ‚Conversion 90’, die sich offiziell ‚Fachausstellung der Rüstungs-
betriebe der UdSSR’ nennt, ist eine jener unglaublichen Weltpremieren, die seit Gorbatschows Perestroika schon fast zur Regel werden. Für westliche Beobachter der Messe, unter ihnen auch viele IG Metall-Betriebsräte, scheinen einige der gezeigten Beispiele unmittelbar auf hiesige Ver-
hältnisse übertragbar. So stellten die U-Boot-Werften zivile Tauchboote für die Reparatur von Öl-Plattformen vor. Flugzeughersteller entwickeln nun Passagiermaschinen oder Rettungsflug-
zeuge. Eher Einzelfälle dürften jedoch die vorgestellten Feuerwehr- und Bergefahrzeuge auf der Basis von T-55-Panzern sein. Denn auch die große Sowjetunion dürfte für 40.000 abzurüstende Panzer keine zivile Verwendung finden. Noch weniger übertragbar ist die sowjetische Vorstellung, dass die Rüstungsbetriebe in großem Umfang landwirtschaftliche Geräte, Maschinen für die Nah-
rungsmittelindustrie, Medizintechnik oder Konsumgüter wie Fernseher und Kühlschränke herstel-
len. Wie das mit den bisherigen Qualifikationen, Maschinen und Leitungsstrukturen möglich sein soll, konnte westlichen Unternehmern und Betriebsräten nicht recht erklärt werden. Immerhin überzeugte die Messe als politische, vertrauensbildende Demonstration für den Willen der Sowjet-
union, mit der Abrüstung und Umrüstung auf zivile Güter ernst zu machen. Eine vergleichbare Ausstellung westlicher Regierungen oder Rüstungskonzerne ist bisher noch nicht in Sicht.“6
Auf dem Stachus wird am 31. Juli öffentlich zur Blockade des A-Waffen-Lagers Bellerdorf in Hes-
sen aufgerufen.7
In München arbeiten im August immer noch etwa 20.000 Menschen in Rüstungsbetrieben. Schon seit Jahren versuchen Mitglieder der IG Metall, die Firmenleitungen zur „Rüstungskonversion“, zum Ausstieg aus dem Rüstungsgeschäft hin zur zivilen Produktion, umzustimmen. „… ‚Der Um-
satz des Zivilgeschäfts lag erstmals leicht über dem der Wehrtechnik’, vermeldet der Geschäftsbe-
richt 1989 der Krauss-Maffei AG in München. Und in einem ‚Ausblick’ auf 1990 heißt es: ‚Das wehrtechnische Geschäft wird drastisch zurückgehen.’ Das ist heute kein Beinbruch mehr. Denn kaum noch 1.000 Arbeitnehmer, weniger als ein Fünftel der Belegschaft, bauen im Monat gerade noch zwei bis drei Leopard-Panzer zusammen. Dass Panzerarmeen in Europa unsinnig und unbe-
zahlbar werden, konnte nicht nur Krauss-Maffei schon seit Jahren voraussehen. Aber kein Unter-
nehmen hat sich so konsequent auf die panzerlose Zeit vorbereitet. ‚Die gesicherten Gewinne und die ungeheuer hohen Anzahlungen für den Leo II haben immer die zivilen Aktivitäten alimentiert’, weiß Harald Flassbeck, der für die IG Metall im Aufsichtsrat sitzt. Seit zwei Jahren sind die neuen Produkte sogar in den schwarzen Zahlen. Paradepferd ist die Kunststofftechnik. Bei Pressmaschi-
nen für CD-Platten hat Krauss-Maffei die führende Position. Entwickelt wurden Zentrifugen zur Rauchgasentschwefelung und Verfahren für ein Lackieren ohne Lösemittel. Im Lokbau ist das Werk jetzt gemeinsam mit Siemens Systemanbieter für die ICE-Triebköpfe. Der Stahlguss fertigt nun Turbinenräder für Wasserkraftwerke statt Panzerteilen. Neu entwickelt wurden schwere Flug-
zeugschlepper, die die Jumbos huckepack nehmen und einparken. Einige wenige andere Unter-
nehmen, wie MTU in München (Düsentriebwerke) oder Bremer Vulkan (Werft), haben ebenfalls versucht, durch ziviles Wachstum von innen der tödlichen Abhängigkeit von Rüstungsaufträgen zu entkommen. Doch in aller Regel schlagen die Unternehmen ganz andere Strategien ein, die das Ri-
siko der Umstellung allein den Beschäftigten aufbürden …“ 8
Der Antikriegstag am 1. September findet im Wirtshaus am Schlachthof in der Zenettistraße 9 statt.
Im September findet die Aktion „Teststopp“ auf dem Marienplatz statt.9
Seit Oktober finden immer wieder Mahnwachen und Demonstrationen gegen den drohenden Golfkrieg statt.
Ein neues Buch beschreibt die gewollte Unfähigkeit der Politik, Exportkontrollen von Rüstungs-
gütern wirksam durchzusetzen. Das Rüstungsgeschäft setzt darauf, dass neben den schon existie-
renden Mächten neue „Player“ ihre Interessen für neueste Produkte made in Germany anmelden: Holger Koppe/Egmont R. Koch, Bomben-Geschäfte. Tödliche Waffen für die Dritte Welt, München 1990.
Insgesamt verweigern in diesem Jahr in der Bundesrepublik 74.569 junge Männer den Dienst an der Waffe.
1 Siehe „Alte Rechnungen“ von Luitgard Koch.
2 Der Spiegel 12 vom 19. März 1990, 10.
3 Siehe „Schein – Wirklichkeit“.
4 Mitteilungen der Humanistischen Union 130 vom Juni 1990, 31 f. Siehe „Aufrechter Gang“ von Hartmut Bäumer.
5 Süddeutsche Zeitung vom 1. April 1990.
6 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 9 vom 4. Mai 1990, 6.
7 Siehe „Hannes Fischer – Friedensarbeiter“ und „Neues von Hannes und polizeilicher Selbstjustiz“ — „Der Preisträger des „Aufrechten Gang“ 1990 Hannes Fischer, verurteilt wegen Blockade, wurde nach 210 Tagen Haft am 2. Februar 1992 aus der Justizvollzugsanstalt Stadelheim entlassen.“ Mitteilungen der Humanistischen Union 137 vom März 1992, 21.
8 Wehrhart Otto: „Alternativen gibt es genug: Wegtreten zum Umrüsten!“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 17 vom 24. August 1990, 12.
9 Fotografien Grete Schaa, Sammlung Friedrich Müller.