Flusslandschaft 1991

Bürgerrechte

Am 19. Februar findet eine Veranstaltung unter dem Motto „Protest gegen den Krieg am Golf: Redliche Empfindungen, aber keine Argumente?“ in der Max-Emanuel-Brauerei in der Adal-
bertstraße 33 statt. Polizei hat das Gebiet weitflächig umstellt, Polizeibeamte bestehen auf ihrem angeblichen „Anwesenheitsrecht“. Darauf verlassen viele Besucherinnen und Besucher die Ver-
anstaltung, zwei der vorgesehenen RednerInnen verzichten auf ihre Beiträge.

Am 20. Mai erklärt die Marxistische Gruppe (MG) ihre Selbstauflösung. Offenbar gab der Ver-
fassungsschutz Daten von Menschen, die Veranstaltungen der MG besucht haben oder mit der
MG in Verbindung stehen an das Berufliche Fortbildungszentrum der bayrischen Arbeitgeber-
verbände
sowie an den Bayerischen Rundfunk weiter, der die angeblichen MGler entlassen will.1 Siehe auch „StudentInnen“ 1977.

Nicht nur der Staat überwacht seine Bürgerinnen und Bürger, Betriebe überwachen ihre Beleg-
schaften. Siemens liefert dazu die Instrumente.2

Am 16. Oktober verleiht die Humanistische Union ihren Preis „Aufrechter Gang“ an den Polizei-
obermeister Siegfried Krempl.3 Siehe auch „Bürgerrechte“ 1996.

Am 3. Dezember verabschiedet der bayrische Landtag den neuen Erlass betreffend „Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst“. Jede Bewerberin, jeder Bewerber zum Eintritt in den öffentlichen Dienst wird an Hand einer Liste gefragt: „1. Sind Sie oder waren Sie Mitglied einer oder mehrer extremistischer oder extremistisch beeinflusster Organisationen? 2. Unterstützen Sie eine oder mehrere extremistische oder extremistisch beeinflusste Organisationen oder haben Sie eine solche unterstützt?“ Jede und jeder hat eine Erklärung zu unterschreiben, daß er/sie sich im klaren darüber ist, bei „falschen, unvollständigen oder fehlenden Angaben“ nicht eingestellt bzw. wieder entlassen zu werden. Bei positiven Angaben im Fragebogen, bei der Weigerung, die Er-
klärung zu unterschreiben, oder „auf Grund anderweitig bekannt gewordener Tatsachen“ entste-
hen bei den Einstellungsbehörde Staatstreuezweifel. Die passivische Anonymformulierung „ander-
weitig bekannt gewordene Tatsache“ weist darauf hin, daß die Behörden die Denunziation ins Verfahren ziehen wollen. Bei Zweifeln soll angefragt werden beim: Landesamt für Verfassungs-
schutz, das von seinen „Erkenntnissen" nur die gerichtsverwertbaren anliefern soll.4 Das erstmals seit dem Adenauer-Erlaß 1951 wieder in diesem Zusammenhang verwendete Verzeichnis von Par-
teien und Gruppen: Antifaschistisches Komitee – Stoppt die schwarzbraune Sammlungsbewe-
gung, früher Anti-Strauß-Komitee; Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB); Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK); Deutsche Friedensunion (DFU); Deutsche Kommunistische Partei (DKP); Initiative für die Vereinigung der revolutionären Jugend (IVJR); Kommunistischer Bund (KB) – aufgelöst am 20. April 1991; Kommunistischer Hochschulbund (KHB); Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD); Marxistische Gruppe (MG) – aufgelöst am 1. Juni 1991; Marxistischer Studentinnen- und Studentenbund (MSB Spartakus) – aufgelöst am 23. Juni 1990; Partei des Demokratischen Sozialismus/Linke Liste (PDS); Sozialistische Deutsche Arbei-
terjugend (SDAJ); Vereinigte Sozialistische Partei (VSP); Vereinigung der Verfolgten des Nazi-
regimes – Bund des Antifaschisten in der Bundesrepublik Deutschland (VVN-BdA); Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg (VOLKSFRONT). Auch die Organisationen auf dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR befinden sich in dieser Liste: Freier Deutscher Gewerkschafts-
bund (FDGB); Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF); Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB); Freie Deutsche Jugend (FDJ); Volkssolidarität (VS); Demokratischer Frau-
enbund Deutschlands (DFD); Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter (VKSK); Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB); Gesellschaft für Sport und Technik (GST); Kammer der Technik (KDT); Kulturbund der DDR (KB).5

Träger des Aktionsbündnisses „Bürger beobachten die Geheimdienste“ sind im Dezember: SPD Bayern, Die Grünen Bayern, ÖTV Bayern, Fraktion Die Grünen im Bayer. Landtag, Arbeitsge-
meinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen, Junge Liberale Stadtverband Mün-
chen, Humanistische Union Landesverband Bayern, Richter und Staatsanwälte in der ÖTV, Neue Richtervereinigung Landesverband Bayern, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Ju-
risten
, Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten, Initiative Bayer. Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, Landesarbeitskreis Rechtspolitik DIE GRÜNEN Bayern, Anschrift: Wolfgang Killinger, Bräuhausstr. 2, 8000 München 2.

Mit 40 bis 2.000 DM kann laut bayrischer „Richtlinie zur Kostenerhebung“ das Beiseitetragen einer/s DemonstrantIn durch die Polizei in Rechnung gestellt werden. In Baden-Württemberg kost’s 38 DM, in Sachsen-Anhalt und Brandenburg ist der Spaß noch umsonst.


1 Siehe „Erklärung“.

2 Siehe „Aus für Mithörer“ von Hannelore Messow.

3 Siehe „Diener zweier Herren: die Polizei zwischen Obrigkeit und Bürger“ von Siegfried Krempl.

4 Vgl. Plenarprotokoll des Bayerischen Landtags, 15. Mai/12. Dezember 1991; FMBI 18 vom 30. Dezember 1991, 5l0ff.

5 Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 3. Dezember 1991, Nr. 1F1-2015-1/13, Amtsblatt der Stadt München, KWMBl, Nr. 2/l992, 57 f. – Siehe „Der neue „Radikalenerlass“ des Freistaats Bayern“. – Dr. jur. Diether Posser, Sozius in der Anwaltskanzlei des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Essen, Mitglied der 1952 ge-
gründeten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), nach deren Selbstauflösung 1957 SPD-Mitglied, 1968 – 1988 in NRW Mi-
nister für Bundesangelegenheiten, danach dort Justiz- und Finanzminister, stellvertretender Ministerpräsident und 1970 – 1986 im Parteivorstand der SPD, erinnert in seinem Werk „Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in poli-
tischen Prozessen 1951–1968, München 1991“ an die politisch-justiziellen Verfolgungen von Pazifisten, Kriegsgegnern, Ver-
ständigungspolitikern zwischen Ost und West, Gewerkschaftern, Kommunisten und anderen in der BRD und auch von Menschen, die in der DDR als Spione verdächtigt oder überführt wurden.