Flusslandschaft 1992

AusländerInnen

Am 31. Juli verurteilt das Schwurgericht München I den Zeitsoldaten Michael K. wegen versuchten Totschlags zu sieben Jahren Haft. Er hat nach einer Auseinandersetzung mit einer Gruppe junger Türken zwei von ihnen mit einer abgesägten Schrotflinte angeschossen. Wie durch ein Wunder gab es keinen Toten.

Im August verübten Rechtsextremisten in Rostock Anschläge auf Ausländer. Bäckermeister Bern-
hard Wild, der Filialen in der Amalienstraße, in der Türkenstraße, in der Zweibrückenstraße und in der Beckstraße betreibt, berichtet: „Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, wo manche Politiker meinten, ihr Süppchen im Topf der Ausländerfeindlichkeit kochen zu können, da habe ich in jedem Geschäft einen Zettel ausgehängt, in dem es hieß, dass in diesem Betrieb Bürger aus der Tschechei, aus Serbien, Kroatien, Nigeria, aus den alten und neuen Bundesländern, darunter ein behindertes Mädchen, kollegial und friedlich miteinander arbeiten. – Ich habe sehr viele und sehr positive Reaktionen darauf bekommen, was mich nachdenklich gestimmt hat. Weil sie alle so still und klammheimlich abgegeben wurden, aus Furcht, von anderen gehört zu werden. Sind wir wirk-
lich schon wieder so weit, hab’ ich mich gefragt, dass man sich nicht mehr traut, seine Meinung frei zu äußern? – Kurz darauf gab’s die Lichterkette und das hat diesen Politikern gezeigt, wie die Stim-
mung wirklich im Lande ist. Seither hat die extreme Panikmache aufgehört.“1

Am 4. September schreibt der Geschäftsführer der Seidlvilla dem Verantwortlichen dieser Web-Seite: „lieber günther: am 10. und 11. september zeigen die ausländischen jugendlichen ihre fotos und den mit yola grimm realisierten dokumentarfilm ‘frende augen’. da wir inländische störer nicht ausschließen, ist meine bitte an dich, uns an diesen beiden abenden den rücken zu stärken. wenn dir dies an beiden tagen nicht möglich ist, so bitte dann am 11. september (freitag), damit yola nicht allein ist. wie du weisst, ist der svv ein verein der tatkräftigen frauen. was lehrt uns das nun schon wieder? …“2 An diesen drei Abenden schleichen mehrere obskure Gestalten um das Haus, die noch nie hier gesehen wurden. Zum Glück sind die Veranstaltungen gut besucht und mehrere Frauen und Männer zeigen physische Präsenz, so dass sich die Dunkelmänner gar nicht erst ins Haus begeben. Später werden sie im Lokal Weinbauer gesichtet.

Am 3. Oktober findet eine Demonstration von etwa vierhundert Menschen statt, bei der sich auch Ausländer beteiligen. Es kommt zu rassistischen Übergriffen der Exekutive.3

Die Ausstellung „Schwabinger Bilderfries“, Arbeiten von in Schwabing lebenden Künstlerinnen und Künstlern im Format DIN A4 wird am 5. November in der Seidlvilla in Schwabing eröffnet. Das über einhundert Meter lange Gesamtkunstwerk mit mehr als zweihundertfünfzig Arbeiten wird im Dezember versteigert. Mit dem Erlös wird eine Plakataktion gegen Fremdenfeindlichkeit finanziert.

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9. November in München

Geschockt von weiteren ausländerfeindlichen Ausschreitungen vor allem in den „Neuen Bundes-
ländern“ demonstrieren am 9. November bundesweit dreihunderttausend Menschen. Die Demon-
stration in München unter dem Motto „Heraus gegen Rassismus, Naziterror und Pogrome — für uneingeschränktes Recht auf Asyl“ mit 40.000 Teilnehmern führt vom Stachus zum Odeonsplatz.5

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Am 22. November kommt es zu Brandanschlägen auf Türken in Mölln. Gil Bachrach von der GAT-Filmproduktion, Christoph Fisser vom Babalu, Chris Häberlein von Häberlein & Mauerer sowie Giovanni di Lorenzo von der Süddeutschen Zeitung organisieren für Sonntag, den 6. Dezember, mit vielen freiwilligen Helfern eine Lichterkette. Unter dem Motto „München — eine Stadt sagt Nein“ gehen schätzungsweise dreihundertfünfzigtausend bis vierhunderttausend Menschen mit Lichtern auf die Straße, um ihre Solidarität zu zeigen.7 Andere Städte in Europa folgen in den nächsten Wochen diesem Beispiel.8 Seitdem entwickelt und unterstützt der gemeinnützige Verein Lichterkette e.V. Projekte und Aktionen, die im Sinne der Völkerverständigung die Begegnung, den interkulturellen Austausch und das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in München fördern. Anfang Dezember 2007 feiert die Lichterkette München ihren 15. Geburtstag. Im Rahmen der Reihe „Deutschstunde“ im Literaturhaus sind Daniel Cohn-Bendit und Giovanni di Lorenzo, der Initiator der Lichterkette, zu Gast.

Am 8. Dezember findet ein Brandanschlag auf ein Arbeiterwohnheim der Firma MAN statt. Alba-
nische Bewohner können das Feuer löschen. Angeblich eine Tat ohne rassistischen Hintergrund.

Franz Gans hat im Dezember in einer Münchner Tageszeitung einen Leserbrief veröffentlicht, in dem er sinngemäß auf die verschwiegene Teilhabe führender politischer Repräsentanten am Brandgeruch der Pogrome im Land hinweist und deren formale Distanzierungen als heuchlerisch beschreibt. Daraufhin klingelt über Wochen nachts alle paar Stunden bei ihm das Telefon, ohne dass sich ein Anrufer meldet. Außerdem bekommt er per Post mehrere anonyme Drohbriefe. Einem dieser Briefe, der sich mit persönlichen Invektiven zurückhält, ist ein Packen von Fotoko-
pien aus rechtsextremen Zeitungen beigelegt.9

(zuletzt geändert am 5.11.2020)


1 Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 116 f.

2 Privatsammlung

3 Siehe „Demonstration zum ‚Tag der Deutschen Einheit’ ins Westend“.

4 Foto: Cornelia Blomeyer (www.cornelia-blomeyer.de)

5 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen. Vgl. Süddeutsche Teitung vom 10. November 1992.

6 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

7 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen. Siehe die Fotos der Lichterkette „eine stadt sagt nein“ von Cornelia Blomeyer und „Die intellektuelle Feuerwehr“ von Giovanni di Lorenzo. Vgl. Süddeutsche Zeitung 282 vom 7. Dezember 1992, 35.

8 Siehe „Ausländerhass vor dem Pantoffelkino“ und „Lichter(eti)kettenschwindel oder: Feuer und Flamme für diesen Staat“.

9 Siehe „Asylanten sind die fünfte Kolonne“.