Flusslandschaft 1992

Kunst/Kultur

Mitglieder der Aktion Lebensqualität1 gehen häufig in öffentlich zugängliche Veranstaltungen und stellen kritische Fragen: „… Im Gewerkschaftshaus liegen bei der Veranstaltung mit dem Kulturre-
ferenten der Stadt München bereits 35 bis 40 schriftliche Wortmeldungen von geladenen Gästen vor, bevor er überhaupt ein Wort gesagt hat. Das Motto ‘Zuhören, nachdenken, diskutieren’ wird lächerlich angesichts der Tatsache, dass sich das gewöhnliche Volk nur durch lautstarken Protest Zugang zum Mikrofon verschaffen kann. Nicht einmal die Betriebsgruppe Freie Theater der IG Medien darf die ‘Kopernikanische Wende in der Münchner Kulturpolitik’, die seit Amtsantritt die-
ses sozialdemokratischen Kulturmanagers eingetreten sein soll, in Frage stellen, ohne beleidigte Reaktionen hervorzurufen.“2

Helmut Ruge vermutet, dass in München deshalb so selten protestiert wird, weil es in der Stadt so viele exzellente kritische Kabaretts gibt.3

THEATER

In einer Vorstellung des Residenztheaters erhebt sich am 23. Januar erregt ein kräftiger Herr, ver-
lässt seinen Platz in der Mitte der zweiten Reihe, geht am Rande der Zuschauerplätze bis zur fünf-
ten Reihe, packt einen dort sitzenden etwas schmächtigeren Mann und zerrt ihn auf den Flur.4

Wolgang Höbel schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Dezember 1992: „FURIEN VOR FLUSSLANDSCHAFT. Großdeutschkunst: Sagerers ‚Nibelungenströme‘ … Sagerers Auseinander-
setzung mit der Nibelungensage zeigt diesmal, im dritten Teil (der in der proT-Chronologie gleich-
wohl der zweite ist), den Kampf der zürnenden Frauen. Ruth Geiersberger im hautengen Mini-Glit-
zerkleid ist Kriemhilde, Agathe Taffertshofer, den weißen, mächtigen Walkürenleib mit einem grü-
nen Fummel nur notdürftig bedeckend, spielt ihre Gegenspielerin Brunhilde. Es ist zunächst ein Kampf mit gefährlich dröhnenden Worten. ‚Ich bin eine deutsche Frau und mit einem deutschen Mann verheiratet‘, hört man da, und bald darauf: ‚Mein Mann hatte zweimal hintereinander einen nationalen Traum.‘ Wo, bitte, befinden wir uns? ‚In der Geschichte der Nibelungen‘, so verkündet der Programm-Faltkarton, ‚auf jeden Fall vor Siegfrieds Tod und nach Siegfrieds Wald- und Dra-
chenkämpfen‘. Außerdem ‚mitten in familiären und gesellschaftlichen Verwicklungen, also mitten in Deutschland‘. Das ist keine leere Drohung: Sagerer, der sich diesmal aufs Regieführen be-
schränkt, präsentiert unter dem Titel ‚Nibelungenströme‘ ein Schreckensszenario. Schon die Büh-
ne, ein metallglitzernder Tresen vor weißgetünchter Wand und über blutigrotem Boden, ist ein Ort für Metzgergesell(inn)en: Wir befinden uns im Schlachthaus Deutschland … Sagerers Jagdszenen aus Nibelungenland sind nicht mehr als hellsichtige Momentaufnahmen deutschen Wahns. Er will nicht werten und nicht moralisieren, sondern nur ausstellen: Pathos und Lächerlichkeit, Horror und Schönheit liegen in diesem durch (auf vier Monitoren präsentierte) Ansichten ‚deutscher Strö-
me‘ gegliederten Bilderbogen nah beieinander. Das Ergebnis aber ist ein wüstes, virtuoses Husa-
renstück – Sagerers Beitrag zur deutschen Hybris der Gegenwart.“5

LITERATUR

Der Zusammenbruch der Warschauer-Pakt-Staaten bewirkt bei vielen, die in der Sowjetunion eine gute Alternative zum kapitalistischen Westen sahen, unterschiedliche Reaktionen. Einige wenige drehen sich um 180 Grad und werden zu glühenden Propagandisten einer neoliberal befreiten Marktwirtschaft, einige wenige schließen sich obskuren Sekten an, bei manchen stellt sich eine trotzige „Jetzt-erst-recht-Haltung“ ein, einige resignieren und ziehen sich ins Privatleben zurück, nicht wenige fallen in Depressionen. Am 13. Mai beendet Gisela Elsner ihr Leben, aber sicher nicht nur wegen der politischen Zeitenwende.6

MUSIK

Karl Forster: „München hat heute nur ein einziges Jazzlokal: Die »Unterfahrt« in Haidhausen. Dort passen vielleicht 50 Leute rein, wenn sie nicht nur zuhören, sondern auch zusehen wollen. Mehr hat die Millionenstadt München ihren Jazzfans nicht zu bieten, es sei denn, sie zahlen 80 Mark für ein Konzert mit Friedrich Gulda in der Philharmonie. – Einer Stadt, die Straßenmusik nur mit Bürokratenbescheinigungen zulässt, fehlt jener fruchtbare Sumpf, aus dem die Blüten sprießen. In den Metrostationen von Paris wurde generationenlang Lambada gespielt, bevor man Lambada erfand. In Münchens U-Bahnhöfen dürfen jetzt nach einer vielbeklatschten Aktion des Stadtrats erstmals Musiker ihre Instrumente auspacken. Bis wieder irgend jemand kommt und sagt, dies sei »soziallästig« – ein Wort, das wir noch aus Gauweilers Kampf gegen Obdachlose (nicht gegen Obdachlosigkeit) kennen. – München ist keine Stadt der Musik. Dafür sorgt schon der Bayerische Rundfunk, dessen oberster Gebieter in Sachen U-Musik so wenig Ahnung hatte, dass er nicht mal mehr als Witzfigur taugte. Die Hände des Münchners sind müde vom Mitklatschen zu Peter Maffays Keimfrei-Pop, seine Lippen sind blutig vom Hast-du-mich-gesehen-Bussi, die Augen halbblind vom Da-schau-her-Blinzeln, die Ohren taub vom Geklirre der Maßkrüge. Münchens Herz schlägt im Rhythmus des Schäfflertanzes und nicht der Rockmusik. München hat wirkliche Musik nicht verdient.“7

BILDENDE KÜNSTE und AKTIONEN

Der 1952 in Dornbirn, Vorarlberg, geborene Wolfgang Flatz richtete im Dezember 1984 in Mün-
chen den Friseursalon „Rosana“ nicht nur mit von ihm entworfenen Möbeln ein, sondern ersetzte die sonst üblichen Spiegel durch Videokameras bzw. -Monitore. In der Folge entwarf er auch Büh-nenbilder, etwa an den Münchner Kammerspielen. Mit Florian Aicher und Uwe Drepper gewann er den Architekturwettbewerb zur „Laimer Unterführung“, realisierte die Videoskulptur „Modell America“, einen elektrischen Stuhl, bei dem ein Verurteilter im Todeskampf zu sehen ist und kon-zipierte Ausstellungen. Sein Stück „Demontage II“ wurde in verschiedensten Variationen aufge-führt. In der Rosenheimer Fassung von 1987 durchbrach Flatz mit einem Presslufthammer eine Mauer, während eine Sopranistin Lieder deutscher Klassiker sang. Anfang der 90er Jahre verkauf-te er „Softkiller“, den ersten kaufbaren Computervirus. Dieses Programm wurde für 1.800 DM je Diskette im 20er Diskettenpack verkauft. Nach dem Start zeigte der Virus den Kopf des Künstlers und einige Warnungen. Überging der Anwender diese wiederholt, so löschte „Softkiller“ die Fest-platte und zerstörte sich selbst. Sogar bayrische Behörden wurden auf das Programm aufmerksam und prüften, ob der Tatbestand der Computersabotage erfüllt ist. Flatz reibt sich an gesellschaftli-chen Strukturen und äußert sich über die Stadt, in der er lebt.8

Der Münchner Holzbildhauer Rudolf Wachter stellt 1992 an der Tegernseer Landstraße/Ecke Edel-
weißstraße seinen „Hängenden Turm“ auf, einen sechseinhalb Meter hohen, knapp zwei Meter dicken Baumstamm mit leichter Neigung. Nach Protesten von Anwohnern lehnt der Kreistag des Landkreises München den Ankauf der Großplastik ab.

(zuletzt geändert am 19.10.2021)


1 Siehe „Der Kaiser ist ja nackt!“.

2 Kritik ist unerwünscht: 20 Beispiele für die Gegenaufklärung In: der zeitgenosse 3. Kulturprogramm der Aktion Lebensqualität 1992, Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

3 Siehe „Kurstadt oder Kulturstadt“ von Helmut Ruge.

4 Siehe „Sind Sie durchgeknallt oder im Dauerrausch, Herr Schmitt?“ von Wolfgang Spielhagen.

5 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=OmwAJeOvYbk.

6 Siehe „Gisela Elsners Tod – ein tragisches Lehrstück“ von Rolf L. Temming, „Zum Ableben von Gisela Elsner“ von Erich Wiechmann und „Als wäre gerade dies, der Mensch, das allerschlimmste“ von Gerhard Armanski. Vgl. auch Waldemar Fromm: "Deutschlandbilder und Familiengedächtnis. Anmerkungen zu Gisela Elsner anlässlich ihres 75. Geburtstages. Mit einem Auszug aus ihrem unveröffentlichten Roman ‚Im gelobten Land’ in: Freunde der Monacensia e.V., Jahrbuch 2012, München 2012, 97 ff.

7 Karl Forster, 5/4takt. In: Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 167 ff., hier 170.

8 Siehe „Was die Masse meint, ist nie verkehrt“ von Flatz.