Flusslandschaft 1993

Flüchtlinge

Die Hetze gegen Asylsuchende und AusländerInnen ist allgegenwärtig. Die Stimmung ist aufge-
heizt, gegen „Asylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ wird aufgewiegelt, die Politik der Bundes-
regierung schwimmt auf dieser Welle. Auch in München instrumentalisieren Politiker das Thema Flüchtlinge. „… Besonders erwähnt werden müssen hier immer wieder der damalige Kreisverwal-
tungsreferent Dr. Uhl und der damalige Oberbürgermeister Georg Kronawitter. In einer massiven Abwehrhaltung wurden Flüchtlinge, die von München übernommen werden sollten, mit Bussen öffentlichkeitswirksam durch die Stadt gekarrt, um sie schließlich zum Bunker in der Heßstraße 120 zu fahren. Ebenfalls öffentlichkeitswirksam wurden Flüchtlinge auf der Theresienwiese in Containern und hinter einem Zaun untergebracht. Ein „Stab für außergewöhnliche Ereignisse – SAE“, der bis dahin nur in Katastrophenfällen zusammen trat, wurde installiert, um die Flücht-
lingszuwächse in München als das zu klassifizieren, wie sie gesehen werden sollten: Als Katastro-
phe. Öffentlichkeitswirksam verurteilten Uhl und Kronawitter Protestaktionen von unwürdig untergebrachten Flüchtlingen, die aus Protest ihr Essen aus dem Fenster geworfen hatten, Krona-
witter schrieb einen bösen Artikel im Spiegel wegen einer teuren lebensrettenden Operation für einen Flüchtling. Die genaue Analyse dieser Vorgänge von damals wäre noch heute beschämend …“1 Nicht alle in München sind verhetzt; einige beginnen damit, Strukturen für eine eigene kom-
munale Flüchtlingspolitik aufzubauen, unter ihnen besonders aktiv ist Anni Kammerlander. „… Bekanntlich hat das Beharren des damaligen OB Kronawitter, Uhl wieder zum Kreisverwaltungs-
referenten zu wählen, fast zum Bruch des rot-grünen Bündnisses im Rathaus geführt. Im Rahmen der erbitterten Debatten darum haben wir, meine Ehefrau Angelika Lex und ich, irgendwann die Idee eines Flüchtlingsamtes – das heutige Amt für Wohnen und Migration, ins Gespräch gebracht – dafür wären wir bereit, Uhl zu tolerieren – nicht zu wählen, das konnte keiner verlangen – und weiterhin forderten wir dies und das – aber vor allem die finanzielle Unterstützung von Refugio. Dies wiederum hat Kronawitter in einer Nachtsitzung mit einem Bewegung – die bedeutete, wenn es weiter nichts ist – akzeptiert. Das war die Geburtsstunde von Refugio. Und wir müssen feststel-
len: Uhl ist weg – und Refugio ist größer denn je.“2 Und so beginnt ein Paradigmenwechsel. Die Stadt fängt damit an, ein soziales Netzwerk für Flüchtlinge zu schaffen, das im Lande seinesglei-
chen sucht. Im Januar beschließt der Münchner Stadtrat den Aufbau eines psychosozialen Zen-
trums für Flüchtlinge. Im April entsteht der Förderverein Refugio München e.V. Im September beauftragt die Stadt München die Initiative für Flüchtlinge (IfF) zur Gründung und Trägerschaft des psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge Refugio.

Das Motto des Ostermarsches lautet: „Deutsche Soldaten in alle Welt — Nie wieder! Für ein unein-geschränktes Recht auf Asyl!“

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Am 27. April demonstrieren etwa Tausend Menschen gegen die vom Bundestag geplante Änderung des Asylrechts. Bei der Kundgebung spricht auch ein Vertreter der Initiative Schwarze Deutsche/
Schwarze in Deutschland
(ISD)3. Im Mai beschließt der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit im so genannten „Asylkompromiss“ eine Änderung des Asylgrundrechts, die vom ursprünglichen Grund-
recht nicht mehr viel übrig lässt. Seitdem sinken die Zahlen der Asylanträge stetig. – Vor der abendlichen Aufführung am 24. Mai entern mehrere Menschen die Bühne der Münchner Kam-
merspiele
und entfalten ein Transparent mit der Aufschrift „Offene Grenzen! Alles andere ist Mord! Ökoli München“. Dazu verliest die Ökologische Linke (Ökoli) eine Erklärung.5

Am 26. Mai schafft der Bundestag mit satter Zweidrittelmehrheit das Grundrecht auf Asyl faktisch ab. Das geht ganz einfach: Wer über eines der allesamt zu „sicheren Drittländern“ erklärten Nach-
barländer der Bundesrepublik einreist, kann ohne Ansehen der Fluchtgründe in dieses Land zu-
rückgeschickt werden. Am 14. Mai 1996 bestätigt das Bundesverfassungsgericht diesen Beschluss. – „Mauer-Bauer. Noch als Innenminister in spe gab Günther Beckstein Mitte Juni öffentlich be-
kannt, dass der Freistaat sich zur Verteidigung der weiß-blauen Festung gegen die angebliche Asylantenflut bestens gerüstet hat. So sollen die grünen Grenzen nach Österreich und zur Tsche-
chei künftig durch elektronische Infrarotgeräte überwacht werden, um etwaige Flüchtlinge ab-
fangen zu können. Auch sonst werde das neue Asylgesetz, das mit den Stimmen zahlreicher SPD-
Bundestagsabgeordneter verabschiedet worden war, ab 1. Juli ‚konsequent und ohne jede Zeitver-
zögerung’ in Bayern umgesetzt. Von derart ‚konsequenten und schnellen’ Maßnahmen des Innen-
ministeriums zum Schutz ausländischer Menschen in Bayern ist bislang nichts bekannt.“6

Über 200 Roma sind seit dem 16. Mai in das ehemalige Konzentrationslager Dachau geflüchtet.7 Am 5. Juni demonstrieren sie und einige Hundert deutsche Unterstützerinnen und Unterstützer auf dem Marienplatz. Auf einem Transparent steht „Bleiberecht für Roma“, auf einer Tafel „AGIF. Yasasin hal Klarin Kardesligi. Es lebe die Brüderlichkeit der Völker“. Am 22. Juni besetzen fünf-
zehn Leute die evangelische Landeskirchenzentrale in München. Sie fordern Solidarität mit den Roma. Die Polizei rückt an. Der Druck wird immer größer.8 „Am 8. Juli verlassen die Roma“ nach vierundfünfzig Tagen „’freiwillig’ Dachau und fahren mit zwei Bussen Richtung Straßburg, um eine Petition im Europäischen Parlament einzubringen. Der Protest verläuft sich, nach erneuten ‚Ein-
zelfallprüfungen’ müssen die meisten Roma Deutschland schließlich doch verlassen.“9

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Am 8. Oktober ketten sich an eine Säule im Zentralbereich des Flughafens sechs Menschen, darun-
ter die Landtagsabgeordneten der GRÜNEN Elisabeth Köhler und Hans-Günter Schramm, an, um gegen die derzeitige Abschiebepraxis zu protestieren. Um sie herum demonstrieren etwa fünfzig Mitglieder des Bündnisses gegen Rassismus und des Bayrischen Flüchtlingsrats.

Ernst Lohoff: „Die heruntergekommene ‚Realpolitik‘ reagiert auf die verleugnete Krise der Welt-
markt-Vergesellschaftung, von der die Lebensgrundlage vieler Millionen Menschen zerstört und eine riesige Elendsmigration in Gang gesetzt wird, borniert mit dem illusionären Mauerbau um die ,Festung Europa’ bei gleichzeitigem Treueschwur auf die verursachende Marktwirtschaft. Eine Bewältigung des Migrations- und Flüchtlingsproblems ist aber nur noch im Kontext einer neuen radikalen Kritik des warenproduzierenden Weltsystems möglich.“11

(zuletzt geändert am 7.10.2023)


1 Siehe Siegfried Benker: „Anni geht, in den Ruhestand – Rede für Anni Kammerlander am 24. Oktober 2012 in der Kreuzkirche“ In: Münchner Lokalberichte 23 vom 8. November 2012, 8 ff.
www.flink-m.de/323.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=757&cHash=96bf8ccb5f25ba3dec241fb365f40653.

2 A.a.O. Siehe www.refugio-muenchen.de und www.grenzenlos-frei.de.

3 Siehe „Kritik ja, aber nicht an uns!“.

4 An der Litfaßsäule vor dem „Import Export“ im Kreativquartier Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße anlässlich der Trauerfeier für Claus Schreer am 4. Oktober 2023. Foto: Richy Meyer

5 Siehe „Erklärung zur Aktion in den Kammerspielen“.

6 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 13 vom 25. Juni 1993, 20 (07).

7 Siehe „Da töte ich mich lieber selbst“ von Bernd Siegler, „Dachauer Aufruf zur Solidarität“ von Anita Geigges, „Roma-Fluchtburg Dachau“ und das Interview mit Jasar Demirov „Die Toten geben uns Schutz“.

8 Siehe „Bayerisches Innenministerium droht mit gewaltsamer Räumung – Evangelische Kirche lässt Roma im Stich“.

9 Stadtbuch München 1996/97, München 1996, 112 f. Siehe auch „Lustig ist das Zigeunerleben …“, „Kein Bleiberecht für Roma“ von Hansjörg Ebell, „Für Anita Geigges“ von Claus Schreer, „… zum Untergang verurteilt“ von Günther Gerstenberg, „Celem, Celem“ von Jasar Demirov und „Die einen wie die anderen“. Siehe auch „Religion“.

10 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

11 Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen. Mit Beiträgen von Robert Kurz, Ernst Lohoff, Johanna W. Stahlmann, Gaston Valdivia, Norbert Trenkle, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, 10.